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Jesuitenpater: "Gewalt an Kindern hat die Kirche in die Krise gestürzt"
Das Gespräch führte Uli Fricker
 |  aktualisiert: 02.04.2019 14:52 Uhr

Der Jesuitenpater Klaus Mertes (64) zählt zu den wichtigsten Ordensmännern in Deutschland. Als Rektor des Canisius-Kollegs machte er 2010 den Missbrauch an diesem Gymnasium erstmals bekannt. Der gebürtige Bonner gilt als kritischer Theologe mit weitgehenden Vorschlägen für eine Reform seiner Kirche. Zurzeit leitet er das Kolleg St. Blasien im Schwarzwald.

Frage: Pater Mertes, im Jahr 2010 taten Sie einen spektakulären Schritt: Sie machten die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin öffentlich, das Sie damals leiteten. Damit machten Sie sich nicht nur Freunde. Würden Sie es wieder tun?

Klaus Mertes: Ja, ich würde das erneut tun. Es war so: Ich schrieb den betroffenen Jahrgängen an meiner Schule einen Brief. Mir war klar, dass dieses Schreiben auch öffentlich werden würde. Doch es ging mir um die Kommunikation mit den Betroffenen.

Sie haben damals eine Lawine losgetreten. Die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch startete. Hätten Sie damit gerechnet?

Mertes: Diese Wirkung ahnte ich nicht. Ich hatte die Schule im Blick, die ich damals leitete – das Canisius-Kolleg. Meine Absichten waren nicht taktischer Natur. Mir ging es um die Aufarbeitung dieser verheerenden Vorgänge in meinem Verantwortungsbereich.

Sie wurden deshalb in der katholischen Kirche angefeindet. Wie gehen Sie damit um?

Mertes: Sie meinen den Vorwurf der Nestbeschmutzung? Den finde ich lächerlich. Auch von Teilen der Öffentlichkeit wurde ich angegangen; meine Glaubwürdigkeit sollte untergraben werden. Viele Kirchenkritiker konnten es sich nicht vorstellen, dass ein katholischer Kleriker an der Aufarbeitung von klerikalen Verbrechen interessiert ist.

Wie geht ein Kirchenmann mit Menschen um, die sich als Opfer sexueller Belästigung melden?

Mertes: Das Allerwichtigste ist Zuhören. Dabei muss man nicht schon wissen, wie es weitergeht. Zuerst hinhören, zugewandt und ansprechbar bleiben – auch wenn es in einigen Fällen Grenzüberschreitungen und Zumutungen gibt.

Wie geht es Ihnen persönlich? Sie müssen für etwas geradestehen, das Sie weder gewollt noch verursacht haben. Die Täter sind versetzt oder sie leben nicht mehr, und Sie baden es aus.

Mertes: Ja – aus Überzeugung. Das hängt mit meinem Amtsverständnis zusammen, das katholisch geprägt ist. Die Kirche hat ein starkes Amtsverständnis, zu dem ich Ja sage. Damit stehe ich aber auch in einer Verantwortungstradition, die gewichtiger ist als zum Beispiel die eines ehrenamtlichen Sporttrainers im Verhältnis zu seinen Vorgängern.

Warum kommen die Vorgänge so spät ans Licht?

Mertes: Ich kann es für Berlin so beantworten: Betroffene Schüler versuchten damals darüber zu sprechen, aber man hat sie nicht gehört. Das Zweite: Kinder und Jugendlichen begreifen oft zunächst nicht, was an ihnen geschieht – und spalten es ab; es kommt erst später, oft in einer Krisensituation wieder hoch, wenn sie bereits erwachsen sind. Dann blättern sie zurück.

Das Ansehen der katholischen Kirche leidet unter dieser Last massiv. Wie geht es weiter?

Mertes: Die Gewalt an Kindern und Jugendlichen hat die Kirche in die Krise gestürzt, nicht das Öffentlichwerden der Gewalt. Die Krise besteht nicht nur aus den Handlungen der Täter. Das Leitungsversagen der Verantwortlichen, auch von Bischöfen und Päpsten, kommt hinzu und ist das eigentliche Drama für die Institution. Das Versagen reicht von der Blindheit, dem Nicht-Begreifen bis hin zur aktiven Vertuschung und Strafvereitelung Wenn man das erkennt, gibt es auch eine Chance zur Lösung der Institutionskrise.

Die Bischöfe haben den Schlüssel in der Hand. Nun gibt es auch die Forderung, man müsse die Bischöfe entmachten.

Mertes: Nicht entmachten, aber Macht teilen. Selbstaufklärung in monarchischen Strukturen funktioniert nicht. Alle Macht liegt zurzeit in Händen von Papst und Bischöfen. Und diese entzieht sich der Kontrolle. Bei Finanzfragen sind wir da übrigens ein Stück weiter.

Wie könnte eine Kontrolle aussehen?

Mertes: Bisher gibt es keine kirchliche Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit, die angemessen mit Befugnissen ausgestattet und unabhängig ist. Deshalb können Bischöfe immer sagen: „Ich bleibe im Amt.“ Sie sind unantastbar. Ein anderes Beispiel für Machtteilung: Die Bischofskonferenz in den USA machte kürzlich den Vorstoß, ein unabhängiges Gremium, das mehrheitlich aus Laien besteht, solle Straftaten von Klerikern an den Bischöfen vorbei an den Staatsanwalt melden können. Das geht in die richtige Richtung.

Was erwarten Sie von der Konferenz jetzt in Rom?

Mertes: Ich hoffe, dass die eigentlichen Konflikte auf den Tisch kommen und Position bezogen wird. Auf der einen Seite stehen die Kräfte des Festhaltens, die alles beim Alten lassen wollen und deswegen die Ursachen für die Krise vor allem in mangelndem Glaubensgehorsam sehen. Auf der anderen Seite jene, die sich nach Veränderung sehnen, auch deswegen, weil sich ohne diese Institutionskrise nicht auflösen lässt. Ich wünsche mir, dass diese Linien sichtbar werden und dass der Papst dazu Stellung nimmt. Ich denke, dass Papst Franziskus offen dafür ist.

 
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