Wie denken junge Menschen? Wie sehen sie ihre Zukunft? Unter anderem mit solchen Fragen beschäftigt sich Simon Schnetzer täglich. Er ist einer der renommiertesten Jugendforscher Deutschlands und lebt in Kempten. Interviews gehören für ihn zur Tagesordnung - bis vor wenigen Wochen ein Interview etwas auslöst, womit er nie gerechnet hätte.
Herr Schnetzer, Sie sind ungewollt Teil einer russischen Desinformationskampagne geworden - kann man das so sagen?
Simon Schnetzer: Ja.
Was genau ist passiert?
Schnetzer: Ein junger Journalist hat mir eine Anfrage für ein Interview zur Stimmung der jungen Menschen in Deutschland geschickt. Da ich mittlerweile etwa zwei bis fünf Interviews pro Woche gebe, erschien mir das erst einmal nicht außergewöhnlich. Es sollte ein Text für ein französischsprachiges Medium werden und ich wollte dem jungen Journalisten die Möglichkeit dazu geben. Was mir etwas komisch vorkam: Der junge Mann führte das Interview nicht selbst, sondern vermittelte es nur.
Wie lief das Interview ab?
Schnetzer: Es sollte am Ende zwar ein Artikel entstehen, das Interview wurde aber als Video-Anruf aufgenommen. Abgemacht war, dass das Gespräch zwar aufgezeichnet wird, aber nicht als Video verwendet wird. Trotzdem achtete der Interviewer darauf, dass ich gut im Bildschirm positioniert war. Das Ganze fand auf Englisch statt - zumindest größtenteils.
Das heißt?
Schnetzer: Der Interviewer bat mich einige Male, meine Aussagen auf Deutsch zusammenzufassen. Das war bisschen komisch - aber er begründete das damit, dass er das seinen deutschen Kollegen so zur Verfügung stellen wollte. Hätte ich gewusst, was passiert, hätte ich die Kamera nicht angemacht.
Was ist denn passiert?
Schnetzer: Ich hätte es selbst gar nicht mitbekommen, aber kurz darauf meldete sich Lars Wienand von t-online.de bei mir.
Kannten Sie sich?
Schnetzer: Nein. Wir kannten uns nicht persönlich, aber er hatte schon Interviews von mir gelesen. Er erzählte mir, dass er auf dubiosen Seiten auf Zitate von mir gestoßen sei, die ihm komisch vorkamen und die er mir so nicht zutrauen würde.
Was sind das für Seiten?
Schnetzer: Ein Beispiel ist die Seite "Wanderfalke", aber auch auf Twitter wurden Video-Schnipsel des Interviews mit meinen Aussagen in deutscher Sprache verbreitet.
Die Recherche von t-online zeigt: Der Interviewer ist Teil eines Netzwerks russischer "Journalisten", die Putin nahestehen und in Interviews Aussagen sammeln, die sie gegen den Westen verwenden können. Auch Ihre Aussagen wurden aus dem Kontext gerissen.
Schnetzer: Richtig.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Schnetzer: Ich gebe mit Klaus Hurrelmann und Kilian Hampel die Studie "Jugend in Deutschland" heraus. Eine Studie, die wir mit "Die Wohlstandsjahre sind vorbei" betitelt haben zeigt, wie die Spannungen zunehmen, wenn man Menschen etwas wegnimmt oder sie auf Gewohntes verzichten müssen. Als Beispiel für mögliche Folgen habe ich im Interview die Bauernproteste genannt. Bei Wanderfalke werde ich aber beispielsweise wie folgt zitiert: "Der Experte sagt, dass die jungen Deutschen allmählich erkennen, dass ihre Aussichten auf ein Leben in Wohlstand schwinden, weil der Staat nicht mehr so viel Geld ausgeben kann wie früher. Das liegt vor allem an der unsinnigen Politik der Ampelkoalition, die das Land in gut zwei Jahren Regierungszeit in die Krise und zu großen Protesten geführt hat." Der erste Teil, die Analyse, stammt von mir. Der zweite Satz ist aber eine Aussage, die ich so nie tätigen würde.
Was ist Ihnen nach Wienands Anruf durch den Kopf gegangen?
Schnetzer: Krass. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meiner Rolle Teil einer Kampagne werde, in der meine Aussagen als Waffe verwendet werden.
Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende.
Schnetzer: Lars Wienand ist schon länger in diesem Thema drin, recherchiert und wir sind so verblieben, dass ich mich melde, wenn noch einmal eine Anfrage dieser Art kommt. Und sie kam. Lars wollte herausfinden, wer der Strippenzieher ist und ich wollte ihn bei der Recherche unterstützen.
Es kommt also zum zweiten Gespräch. Sie sollen etwas zu E-Sports erzählen. Anlass ist ein Turnier in Russland, bei dem Gaming und physischer Sport miteinander verbunden werden. Wie lief das Gespräch ab?
Schnetzer: Ich habe das Interview an Lars‘ Rechner geführt – er war im Raum, man hat ihn aber nicht gesehen. Ziel war, dass wir mehr über den Interviewer und die Hintergründe herausfinden. Das war ein richtiger Eiertanz. Ich habe versucht, auf Fragen so vage wie möglich zu antworten und gleichzeitig herauszufinden: Wer ist der Auftraggeber? Wo landet das Video? Außerdem habe ich kritisiert, dass das Video beim letzten Mal ohne meine Zustimmung verwendet wurde.
Und wie hat der Interviewer darauf reagiert?
Schnetzer: Nur mit vagen Antworten. Auf die Frage, ob er denn wirklich Journalist sei, sagte er beispielsweise: 'Ich schreibe halt manchmal.'
Dubios.
Schnetzer: Ja, beim zweiten Mal habe ich auch viel mehr gemerkt, wann der Interviewer eine Aussage von mir will, um Russland gut dastehen zu lassen.
Bei der Recherche von t-online sieht man im Video, dass der Interviewer das Gespräch sofort abbricht, als Lars Wienand ins Bild tritt und sich als Journalist zu erkennen gibt. Haben Sie seitdem noch einmal etwas von den russischen "Journalisten" gehört?
Schnetzer: Jein. Kurz danach meldete sich der Vermittler per Mail und dankte für das Gespräch. Er hatte offenbar noch nicht mitbekommen, wie das zweite Gespräch verlaufen war. Danach habe ich nie wieder etwas gehört.
Wurden denn Aussagen aus dem zweiten Gespräch verwendet?
Schnetzer: Nein, das hat das Gespräch auch qualitativ nicht hergegeben und das war ja auch so beabsichtigt.
Etwas mulmig wird einem schon bei den Schilderungen.
Schnetzer: Ja. Das Blöde ist: Die Recherchen von Lars Wienand zeigen, was für ein mächtiger Gegenspieler das ist. Gleichzeitig finde ich es wichtig, zu warnen, dass wir nicht zum Werkzeug russischer Kampagnen werden. Und ich habe mich oft gefragt: Wie mutig bin ich?
Reagieren Sie mittlerweile anders auf Interviewfragen?
Schnetzer: Ja. Es tut mir auch Leid, gerade Freien Journalistinnen und Journalisten gegenüber, die keine Firmen-Mailadresse oder ein vertrauenswürdiges Profil im Netz oder auf LinkedIn haben. Den Hintergrund des Interviewers konnte ich bei dem ersten Interview aufgrund der Vermittlung nicht checken. In dem Fall würde ich heute das Interview ablehnen.