Ist mit dem Tod alles vorbei? Was passiert mit uns, wenn wir sterben? Was kommt danach? Fragen, über die Menschen seit Jahrtausenden nachdenken. Das Thema beschäftigt auch den Schweinfurter Neurologen Prof. Wilfried Kuhn, seit er 1977 das Buch „Das Leben nach dem Tod“ von Raymond Moody gelesen hat. Thema: Nahtoderfahrungen. Der Mediziner Kuhn, Jahrgang 1952, ist Mitherausgeber mehrerer Bücher zum Thema und aktiv im Netzwerk Nahtoderfahrung. Gerade bereitet er ein fünftes Buch vor, in dem es auch um "Spiritualität in Zeiten von Klimawandel und Naturzerstörung" geht.
2010 haben wir uns das erste Mal über das Thema Nahtoderfahrungen unterhalten, damals waren Sie noch Chef der Neurologie am Schweinfurter Leopoldina-Krankenhaus. Das Thema hat Sie nicht losgelassen?
Wilfried Kuhn: Ja, das Thema beschäftigt mich immer noch. Es freut mich, dass das Thema Sterben und Tod jetzt stärker im Interesse der Medizin ist. Was beim Sterben im Gehirn passiert, war lange ein Tabu.
Was ist eine Nahtoderfahrung? Sicher mehr, als das berühmte Licht aus dem Tunnel.
Kuhn: Die Erlebnisse sind teilweise unterschiedlich, es lassen sich aber gleiche Muster erkennen bei Menschen, die wiederbelebt wurden. Die Vision eines Lichtes am Ende eines Tunnels schildern 50 bis 60 Prozent aller, die eine Nahtoderfahrung machen. Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, berichten, wie sie über ihrem Körper geschwebt sind und ihn beobachtet haben. Sie erinnern sich an außergewöhnliche Glücksgefühle. Sie berichten von einem Lebensrückblick. Wie in einem Film läuft ihr Leben an ihnen vorbei. Viele berichten von der Erfahrung bedingungsloser Liebe und von Begegnungen mit verstorbenen Menschen oder auch Haustieren.
Verändern Nahtoderfahrungen die Menschen?
Kuhn: Ja. Eine solche Erfahrung hat oft transformatorischen Charakter. Sie beeinflusst die Menschen nachhaltig. Viele werden spirituell. Die Erfahrung, dass mit dem physischen Tod nicht alles vorbei ist, führt auch dazu, dass man keine Angst mehr vor dem Tod zu haben braucht.
Sie beschäftigen sich auch mit so genannten Sterbebettvisionen. Was ist das?
Kuhn: Sterbebettvisionen gehören zu den außergewöhnlichen Phänomenen in der Nähe des Todes. Sie wurden schon in der Antike beschrieben. Es sind Visionen, die Sterbende am Ende ihres Lebens erfahren. Diese Visionen teilen sie Angehörigen oder Pflegepersonen mit. Meistens ereignen sie sich innerhalb von 24 Stunden vor dem Tod. Hier gibt es Phänomene, die wissenschaftlich nicht zu erklären sind.
Was sind das für Phänomene?
Kuhn: Das erste Phänomen heißt "Peak in Darien", also "Gipfel in Darien". Der Name geht auf ein Gedicht von John Keats zurück, in dem er 1817 beschreibt, wie Hernán Cortéz von einem Gipfel in Panama das erste Mal mit Erstaunen den Pazifik sieht. Der Sterbende schaut in eine Ecke im Zimmer, kommuniziert verbal oder auch nonverbal mit Personen, meist mit verstorbenen Angehörigen. Diese Kommunikation führt dazu, dass der Sterbende plötzlich freudig wirkt. Er wirkt glücklich, getröstet. "Da bist Du ja", "Ihr wollt mich abholen" – solche Sätze fallen. Diese Aussagen sind für Sterbebettvisionen typisch.
Der Sterbende spricht mit Verstorbenen?
Kuhn: Ja. Und das Besondere am "Peak in Darien"-Phänomen besteht darin, dass der Sterbende Kontakt mit Personen aufnimmt, von denen er gar nicht wissen konnte, dass diese bereits verstorben sind! Das ist wissenschaftlich nicht zu erklären. Alles andere könnte man als Delir, Halluzination oder Wunsch abtun. Das nicht.
Und das zweite Phänomen?
Kuhn:Das zweite Phänomen wird als "terminale Geistesklarheit" bezeichnet. Demente oder komatöse Personen, mit denen man nicht mehr kommunizieren konnte, wachen auf, können sich an Dinge erinnern, erkennen Angehörige wieder. Das dritte Phänomen sind so genannte Sterbebett-Koinzidenzen. Jemand spürt, wenn eine nahestehende Person stirbt, obwohl diese sich momentan an einem ganz anderen Ort befindet. Das kann man nur als Paraphänomen erklären. Ein weiteres Phänomen ist die empathische oder geteilte Sterbebettvision. Angehörige sehen einen Lichttunnel im Licht, beobachten selbst, wie die ihnen nahestehende, sterbende Person dort aufgenommen wird.
Verbinden Nahtoderfahrungen Diesseits und Jenseits?
Kuhn: Ja. Ich persönlich teile Nahtoderfahrungen in zwei Teile ein. Es gibt zunächst eine Phase, wo das Diesseitige noch dabei ist. Wenn man aus dem Körper herausgeht, das Zimmer, die Menschen darin sieht. Dann kommt der panoramaartige Lebensrückblick. Es gibt Schilderungen, wonach Menschen dabei die Folgen ihres Handelns spüren. Wer einen Unfall verursacht hat, bei dem jemand verletzt wurde, spürt zum Beispiel das Leid der Angehörigen. Das ist eine kritische Selbstbeurteilung. Sobald man ins Licht geht, beginnt eine transzendente, jenseitige Phase.
Es gibt Skeptiker, die das alles für Halluzinationen halten. Ihre Antwort?
Kuhn: Phänomene wie Nahtoderfahrung, Sterbebettvisionen sind mit unserem materialistischen, naturalistischen Weltbild nicht zu erklären. Auch neurobiologisch ist die Nahtoderfahrung nicht vollständig erklärbar. Da steckt mehr dahinter, als die Wissenschaft sich erklären kann. Der Begriff Halluzination wird von Skeptikern auch missbraucht, um Nahtoderfahrungen in die Nähe von pathologischen psychischen Störungen zu rücken. So heißt es im Volksmund oft "der spinnt", wenn jemand halluziniert.
Was unterscheidet Nahtoderfahrungen von Halluzinationen?
Kuhn: Bei der Nahtoderfahrung ist der Mensch ja normalerweise komatös, das heißt bewusstlos. Die Sinneswahrnehmungen funktionieren nicht. Das ist ein völlig anderer Vorgang als beim Auftreten von Halluzinationen, zum Beispiel bei psychiatrischen Erkrankungen. Bei Nahtoderfahrungen gibt es keinen Bezug zur Aktualität. Man sieht einen Tunnel, Lichtwesen. Bei den echten optischen Halluzinationen zum Beispiel sieht man Dinge, die sich bewegen, zum Beispiel Tierchen. Optische Halluzinationen sind meistens angstvoll, die optischen Erlebnisse in der Nahtoderfahrung dagegen positiv besetzt. Alles ist friedlich, angenehm, voller Licht.
Sehen Sie diese Erfahrungen als Hinweis, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist?
Kuhn: Ja. Bewusstsein kann den Tod überleben und so ohne Materie existieren, was das vorherrschende materialistische Weltbild widerlegt.
Zur Person: Prof. Dr. Dr. Wilfried Kuhn war Chefarzt der Neurologischen Klinik im Leopoldina-Krankenhaus in Schweinfurt und beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Grenzerfahrungen zwischen Spiritualität und Wissenschaft. Kuhn wurde 1952 in Würzburg geboren. Er studierte Chemie und Medizin und absolvierte die Facharztausbildung in Neurologie und Psychiatrie. 1989 habilitierte er sich für das Fach Neurologie an der Universität Würzburg. Mit Joachim Nicolay hat Wilfried Kuhn vier Bücher herausgegeben.