Herr Professor Wagner, Sie sind Sozialpsychologe und Konfliktforscher. In Langweid im Landkreis Augsburg gilt ein Mann als mutmaßlicher Täter, der drei seiner Nachbarn gezielt erschossen und zwei weitere Menschen ebenfalls mit Schüssen schwer verletzt haben soll. Wie kann ein Nachbarschaftsstreit so eskalieren?
Prof. Dr. Ulrich Wagner: Ich kenne jetzt natürlich nicht die Details, wie es in diesem Fall so weit kommen konnte. Doch wer bei tödlichen Katastrophen unter Nachbarn, die zum Glück ausgesprochen selten in Deutschland vorkommen, nach den Auslösern sucht, findet sie sehr oft in Kleinigkeiten, die meist viele Jahre zurückliegen. Da steht beispielsweise am Beginn eine Lärmbelästigung. Oder ein Fahrrad beziehungsweise ein Kinderwagen wird immer so abgestellt, dass es einen stört. Oder der eine findet, es muss einmal die Woche das Treppenhaus sauber gemacht werden, der andere putzt aber nur einmal im Monat. Und diese Probleme werden sehr oft nicht angesprochen, sondern man frisst sie regelrecht in sich hinein, was ein Riesenproblem darstellt. Oder man spricht es an und stößt auf völliges Unverständnis, was ebenfalls Probleme auslöst. Das heißt: Auslöser gerade schwerer, langwieriger Nachbarschaftskonflikte ist fehlende Kommunikation.
Das heißt, wenn mich etwas am Verhalten meines Nachbarn stört, soll ich es so früh wie möglich direkt ansprechen, oder?
Wagner: Ja, wenn einen etwas stört, sollte man es so früh wie möglich ansprechen, aber entscheidend ist es, dass dies in einem freundlichen und sehr sachlichen Ton geschieht. Keinesfalls sollte man dem anderen Vorwürfe machen. Ganz wichtig ist es auch, dass man, wenn wir beim Beispiel Treppenputz oder beim Abstellen von Rädern oder Kinderwagen bleiben, nicht gleich auf die Hausordnung verweist. Viel besser ist es, zu sagen, warum man sich gestört fühlt, warum man will, dass sich etwas ändert, also die eigene persönliche Betroffenheit der Gegenseite auch erklären und um Verständnis bitten. In den meisten Fällen kann man sich dann auch arrangieren.
Was mache ich, wenn mein Anliegen nicht ernst genommen wird?
Wagner: Das kann passieren. Es kann sein, dass mein Interesse die andere Seite völlig uncool findet und sich einfach, ich sage einmal die Frechheit herausnimmt, und meine Bitte ignoriert. Wenn dies geschieht, eskalieren solche Geschichten ganz oft. Denn wir Menschen neigen dazu, solche Situationen mit uns herumzutragen. Wir fressen sie, wie gesagt, in uns hinein. Und in diesem wiederkehrenden Nachdenken beginnen wir in uns Bilder, aber auch Stereotypen, also Urteile, über die andere Seite aufzubauen. Wir suchen dann nach immer neuen Fehlern bei der Gegenseite, mögen sie noch so klein sein. Der Nachbar oder die Nachbarin wird dann zum Feindbild. Über Jahre kann so eine Situation zunehmend eskalieren. Man grüßt sich dann oft nicht mehr, beginnt den anderen zu ärgern, indem man beispielsweise die Luft aus seinem Rad lässt und so spitzt sich die Lage langsam, aber immer weiter gefährlich zu. Denn was noch hinzukommt: Diese Feindbilder, die in mir entstanden sind, rechtfertigen dann die Eskalation. Es ist aus meiner Sicht ja immer die andere Seite, die sich so rücksichtslos benimmt und damit die Schuld trägt.
Aber was kann ich tun, wenn ich freundlich und persönlich begründet meine Bitte vortrage und die andere Seite stur bleibt?
Wagner: In diesem Fall ist es ratsam, eine dritte, neutrale Person mit hinzuzuziehen. Im besten Fall ist es jemand, den man selbst kennt und der auch mit der anderen Seite Kontakt pflegt. Es kann auch der Vermieter sein oder in einem kleinen Ort der Bürgermeister oder ein Geistlicher. Wichtig ist es auch in so einem Fall, dass man miteinander ins Gespräch kommt.
Gibt es auch Menschen, mit denen man einfach nicht in Frieden leben kann?
Wagner: Ja, die gibt es leider auch, aber sie sind zum Glück selten. Und viele solcher Unruhestifter geraten in ihrer Nachbarschaft unter besonderen Druck, was auch für sie nicht angenehm ist, sodass sie im besten Fall wegziehen. Hinzu kommt: Wenn solche Unruhestifter einen beleidigen, bedrohen oder gar handgreiflich werden, dann sollte man natürlich die Polizei einschalten und eine Anzeige erstatten. Die Polizei hinzuzuziehen, kann in solchen Fällen manchmal ein bisschen befrieden.
Doch manche Nachbarschaftsstreitigkeiten ziehen sich über viele Jahre und trotz Polizeieinsätzen gelingt keine Einigung. Raten Sie dann zum Wegzug?
Wagner: Manchmal ist das erforderlich. Doch bevor jemand wegzieht, würde ich erst einmal dazu raten zu versuchen, selbst einen Gang runterzuschalten. Man muss sich klarmachen: Das Ganze ist keine rationale Angelegenheit, vielmehr wird so eine Auseinandersetzung von ganz massiven Emotionen begleitet. Ich ärgere mich ständig, ich fürchte mich vielleicht sogar, da hilft es manchmal, zu der Einstellung zu kommen: Okay, ich finde das Verhalten der Gegenseite falsch. Und ja, eigentlich bin ich im Recht. Aber finde ich vielleicht trotzdem eine Form des Nebeneinanderlebens, die mich nicht mehr so ärgert und die die Lage nicht verschärft? Das hat nichts damit zu tun, immer klein beizugeben. Doch wie ich gesagt habe, neigen wir Menschen dazu, uns in Konflikte hineinzusteigern und geben ihnen dadurch einen Raum in unserem Leben, den sie nicht verdienen. Daher rate ich immer dazu, auch das eigene Verhalten zu überdenken, im eigenen Interesse, denn solche Konflikte belasten ja oft enorm.
Umgekehrt gibt es Fälle, in denen Menschen, weil sie einen anderen Lebensstil pflegen oder einen Migrationshintergrund haben, von Nachbarn schikaniert werden …
Wagner: Ja, auch das gibt es. In so einem Fall würde ich als Einzelner nicht das Gespräch mit der ganzen Gruppe suchen, von der ich mich gepiesackt fühle, sondern ich würde versuchen, mithilfe einer dritten, neutralen Person Einzelgespräche mit denjenigen aus der Gruppe zu finden, die mir noch als die friedfertigsten Nachbarn erscheinen. Als neutrale, dritte Person eignen sich bei Nachbarschaftsauseinandersetzungen im Übrigen immer auch speziell ausgebildete Mediatoren, die über das sogenannte „Kommunale Konfliktmanagement“ bundesweit zu finden sind.
Zur Person: Ulrich Wagner, 71, ist Senior-Professor für Sozialpsychologie im Fachbereich Psychologie an der Phillips-Universität in Marburg.