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Augsburg
Augsburger Landrat Sailer zur Flüchtlingskrise: "Wir saufen hier vor Ort ab"
Viele Kommunen wissen nicht mehr, wo sie noch Flüchtlinge unterbringen sollen. Landrat Sailer sagt: "Wir sind am Ende." Zur Not will er Busse mit Migranten nach Berlin schicken.
Krieg in der Ukraine / Flüchtlingsunterkunft / Asyl.jpeg       -  Das Impfzentrum Gablingen ist inzwischen zur Notunterkunft umfunktioniert worden.
Foto: Marcus Merk | Das Impfzentrum Gablingen ist inzwischen zur Notunterkunft umfunktioniert worden.
Sonja Dürr
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:24 Uhr

Herr Sailer, der Bund will bei der Flüchtlingshilfe sparen. Die Finanzhilfen für Länder und Kommunen sollen mehr als halbiert werden. Geht Ihnen da die Hutschnur hoch?

Martin Sailer: Es macht mich fassungslos. Wir saufen ab vor Ort, um es deutlich zu sagen, und der Bund will die Mittel halbieren – das kann nur zu Lasten der Länder und Kommunen gehen. Der Bund setzt damit jegliche Solidarität aufs Spiel. Das zeigt einmal mehr, dass die Krise in Berlin noch nicht angekommen ist. Es wird höchste Zeit, dass es einen deutlichen Aufschrei der kommunalen Familie gibt. 

Im Nachbarlandkreis Dillingen nennt Landrat Markus Müller die Lage als "so dramatisch und schwierig wie noch nie". Der Unterallgäuer Landrat Alex Eder hat einen Brief an Kanzler Scholz geschrieben. Wie wollen Sie sich denn noch Gehör verschaffen?

Sailer: Ich bin auch deswegen so empört, weil der Bund die Außengrenzen nicht in dem Maße sichert, wie er sie sichern könnte. Wir Landräte müssen jetzt deutlich machen, dass es nicht mehr geht, indem wir sagen: Wir nehmen niemanden mehr auf! Wir schicken die Busse zurück und schicken sie alle nach Berlin! Und vielleicht müssen wir auch alle in die Hauptstadt fahren und demonstrieren. Es muss klar werden, dass es so nicht weitergeht. Was hier stattfindet, ist die völlige Überdehnung dessen, was eine Gesellschaft aushält. Es treibt die Menschen zu Parteien, die wir alle nicht wollen. 

Wie viel Verständnis ist in der Bevölkerung noch da?

Sailer: Die Menschen vor Ort unterstützen meine Haltung. Das weiß ich aus vielen persönlichen Gesprächen und Zuschriften. Und ich positioniere mich auch sehr deutlich in der Frage der Schulturnhallen. Die Kinder waren die eigentlichen Verlierer der Pandemie angesichts von Distanzunterricht und Lockdown. Es darf nicht sein, dass wir ihnen auch noch auf längere Zeit die Schulturnhallen wegnehmen. Ich werde mich da anweisen lassen und habe die Bevölkerung hinter mir. 

Sie haben zuletzt gesagt, die Regierung von Schwaben, die für die Verteilung der Geflüchteten zuständig ist, müsste Ihnen konkret sagen, welche Turnhallen belegt werden sollen. Glauben Sie, dass es so weit kommt?

Sailer: Ich werde es darauf ankommen lassen. Für die Unterbringung der Asylbewerber ist der Freistaat und damit die Regierung von Schwaben zuständig. Sie kann erst dann auf die Landkreise zukommen, wenn sie es selber nicht mehr schafft. Weder der Bund noch der Freistaat statten die Bezirksregierungen finanziell und personell so aus, dass sie selbst diese Aufgabe übernehmen können. Und natürlich sind Landräte und Bürgermeister näher dran an möglichen Objekten. Aber ich bin nicht bereit, eine Schulturnhalle zu schließen. Dann muss mich die Regierung von Schwaben eben anweisen, die Schulturnhalle X oder Y außer Betrieb zu nehmen.

Zuletzt gab es Schlagzeilen, weil Ihre Pläne, in einem Hotel im Güterverkehrszentrum Gersthofen bis zu 440 Geflüchtete unterzubringen, gescheitert sind. Es kam zum Streit zwischen dem Hotelbetreiber und dem Eigentümer, letztlich mussten Sie das Ganze fallen lassen. Wie tief sitzt der Frust?

Sailer: Das Objekt hätte uns bis Jahresende Luft verschafft, um weitere Unterbringungsmöglichkeiten zu finden und herzurichten. Der Wegfall des Hotels hat den Druck noch einmal deutlich erhöht. Wir haben bereits das ehemalige Impfzentrum in Gablingen mit 60 Plätzen maximal belegt. Das ist eine Halle mit null Privatsphäre, mit all den negativen Konsequenzen. Wir müssen in den nächsten 14 Tagen eine Unterkunft finden. Andernfalls werden wir wohl das Schullandheim in Dinkelscherben außer Betrieb nehmen. 

Kein Hotel, keine Schulturnhalle – welche Alternativen gäbe es denn?

Sailer: Im Landkreis Dillingen wurden Zelte aufgebaut. Wir bemühen uns um ein Grundstück, wo wir Ähnliches machen können oder mit etwas Vorlauf eine Containerlösung hinbekommen. Aber auf die Frage, wie es weitergehen soll, kann ich keine Antwort geben. Der Bund muss endlich den Zustrom reduzieren. Es muss zu einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge in Europa kommen. Es kann nicht sein, dass wir hier zehnmal so viele Flüchtlinge aufnehmen wie die Partnerregion des Bezirks Schwaben in Frankreich.

Wie viele Flüchtlinge sind aktuell im Landkreis Augsburg untergebracht?

Sailer: Derzeit sind es 5300 Geflüchtete, wöchentlich kommen etwa zwischen 30 und 50 Personen dazu.

Schlittern wir in eine neue Flüchtlingskrise, in ein neues 2015/2016?

Sailer: Dank einer unglaublichen Welle der Hilfsbereitschaft war die Krise so gut zu bewältigen. Allein im Landkreis Augsburg hatten wir weit über 1000 Ehrenamtliche, die sich um Flüchtlinge gekümmert haben. Jetzt dürften es noch 300 sein. Viele können und wollen nicht mehr. Seither hat sich viel verändert, gerade durch die Pandemie. Es besteht eine hohe Unzufriedenheit und Unsicherheit in der Bevölkerung, wie es wirtschaftlich weitergeht. Der Krieg in der Ukraine bereitet vielen große Sorgen und schürt Zukunftsängste. Die Gesellschaft ist heute viel belasteter, als sie es noch 2015/16 war. Und dazu ein ungebremster Zustrom an Geflüchteten – ohne Perspektive, dass dieser Zustrom irgendwann mal versiegen wird. Damit steuern wir auf eine viel größere gesellschaftliche Krise zu, die mit 2015/16 überhaupt nicht vergleichbar ist.

Ist die Stimmung in der Bevölkerung schon gekippt?

Sailer: Das werden wir bei der Landtagswahl am 8. Oktober sehen. Aber man spürt: Den Bürgerinnen und Bürgern reicht es. Und wir Kommunen sind am Ende. Das gilt für die Unterbringung, aber auch für Kindergartenplätze und Schulen, wo die Belastungsgrenze erreicht ist. Wir versuchen nur noch, den Geflüchteten ein Dach über dem Kopf zu geben. Das hat mit Integration nichts mehr zu tun. Und das merken irgendwann auch die Geflüchteten. 

Zur Person: Martin Sailer ist seit 15 Jahren Landrat des Landkreises Augsburg, zugleich ist der 53-Jährige schwäbischer Bezirkstagspräsident. Bis 2001 war er stellvertretender CSU-Vorsitzender.

 
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