Herr Pfarrer Gugler, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an die aktuellen Austrittszahlen der katholischen Kirche denken?
Herbert Gugler: Das ist äußerst schade, aber die Entwicklung lässt sich wohl nicht mehr aufhalten, allenfalls verlangsamen. 2019 haben ja Freiburger Wissenschaftler eine Projektion veröffentlicht ...
Demnach wird die Zahl katholischer und evangelischer Kirchenmitglieder in Deutschland von 44,8 Millionen im Jahr 2017 auf 34,8 Millionen im Jahr 2035 sinken. Bereits 2022 aber waren es nur noch knapp 40,1 Millionen.
Gugler: Das ist so, leider.
Verlieren Sie angesichts dessen manchmal Ihre Motivation?
Gugler: Ich bin Realist und kenne die Situation, doch ich kann sie nicht persönlich nehmen. Wenn ich auf meine Gemeinde schaue, sehe ich sehr viel Positives. Dieses Jahr sind fünf Menschen eingetreten: ein Übertritt von der evangelischen Kirche, vier Wiedereintritte. Die Wiedereintretenden wollen wieder Teil einer christlichen Gemeinschaft sein, mit allem, was dazugehört.
Macht es Sie traurig, vor leeren Kirchenbänken zu predigen?
Gugler: Bei uns sind die Kirchen gar nicht so leer. Aber zu Ihrer Frage: Ich vergleiche es immer mit einem Fußballstadion – ist es voll, herrscht eine tolle Atmosphäre.
Sie sind Fußballfan?
Gugler: Ich bin FC Augsburg-Fan. Ins Stadion kann ich wegen meiner Dienstzeiten allerdings bloß selten. Übrigens ist der Vergleich mit dem Fußball nicht so abwegig, wie er vielleicht klingen mag: der Einzug der Teams, die Rituale der Fans, die Gesänge. Ein Team, in das sich viele mit ihren Talenten einbringen ... Wenn sich ein Team einsetzt, springt der Funke über.
Ihre Kirche ist also oft voll?
Gugler: Wir versuchen, auf die Menschen zuzugehen, laden sie ein, heißen sie willkommen, nehmen sie ernst, suchen das Gespräch – und machen ihnen verschiedene Angebote. Auf Instagram, Youtube, Facebook, im Bierzelt, bei Veranstaltungen. Wir hatten mal einen Fußballgottesdienst, in dem wir die Weltmeisterschaft aufgegriffen haben. Die Leute kamen im Fußballtrikot – warum denn nicht? So etwas ist schön! Ähnlich war es mit dem Fahrradgottesdienst kürzlich. Zu unserer "Nacht des Lichts" am Abend vor Allerheiligen– unser Alternativprogramm zu Halloween – kamen vergangenes Jahr 800 Menschen. Aktuell haben wir 178 Ministrantinnen und Ministranten. Da geht was!
Und um was geht es Ihnen?
Gugler:Zunächst geht es darum zu sehen, was die Menschen bewegt. Dazu ein Beispiel: Vier Mal im Jahr bieten wir "Heilungsgebete" an – die Sehnsucht nach Zuwendung, Zuspruch, nach Heilung ist groß. Als Kirche haben wir so vieles, womit wir helfen können. Wenn wir die Menschen mit ihren Interessen wahrnehmen, dann nehmen sie auch uns als Kirche wahr. Vielleicht auch anders, als sie dachten.
Anders?
Gugler: Warum nicht ein Lied aus den Charts im Gottesdienst spielen? Es ist wirklich viel möglich. Die Zeiten ändern sich, und wir sollten uns darauf einlassen. Nehmen Sie den Gottesdienstbesuch ...
Der hat bundesweit in den vergangenen Jahren stark abgenommen.
Gugler: Auch das ist leider so, und wir dürfen den Menschen das nicht zum Vorwurf machen. Zugleich merke ich, dass das Interesse nicht verschwunden ist, es ist nur eher situationsbezogener geworden. Doch diese Situationen können wir ja schaffen. Ich als Pfarrer muss zu den Menschen hin, aber die Menschen kommen schon auch selbst, das ist meine Erfahrung und Überzeugung. Es ist wie mit einem Schaufenster: Wenn dort immer das Gleiche zu sehen ist, wird es nicht wahrgenommen. Wenn das Schaufenster abwechslungsreich und bunt gestaltet ist, schauen die Leute rein. Wir als Kirche müssen wieder gesehen werden – und wir müssen auf möglichst allen Ebenen präsent sein.
Kostet Sie das viel Kraft?
Gugler: Sicher. Aber mir macht es Freude. Ich möchte die Menschen erreichen, dafür lebe ich. Und ich sehe die Resonanz, den Erfolg. Es lohnt sich, etwas auszuprobieren – ohne, und das ist mir wichtig, das Gesamte der römisch-katholischen Kirche zu verlassen. Was wir machen, ist alles im Rahmen, es soll niemand verprellt werden. In diesem Rahmen geht sehr viel, und viele gehen mit. Und klar: Man muss als Pfarrer vorangehen.
Ihre Predigten ...
Gugler: Jede kostet mich ein paar Stunden Arbeit. Ich bemühe mich um eine bodenständige, geerdete Sprache: Ich will, dass ich verstanden werde. Das ist nicht einfach.
Begegnet man dem, was Sie sagen, oder Ihnen selbst misstrauisch aufgrund der Kirchenskandale?
Gugler: Ich persönlich werde damit nicht oft konfrontiert. Natürlich spreche ich auch darüber. Die Themen, die die Menschen in meiner Pfarreiengemeinschaft bewegen und die zu mir kommen, sind andere: der Krieg in der Ukraine, Zukunftsängste, Unsicherheit. Wir müssen da sein für die Menschen. Das ist das Wesentliche.
Zur Person Herbert Gugler, 51, aus Augsburg ist seit 2014 katholischer Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft Aichach mit ihren rund 9400 Mitgliedern. Ihm zur Seite stehen derzeit unter anderem ein afrikanischer Kaplan, Ruhestandspriester, zwei Pastoralreferenten und ein Verwaltungsleiter.