
Heinrich O. (Name von der Redaktion geändert) hat eine Chatgruppe eingerichtet, lange vor dem Grauen des vergangenen Donnerstags. Die Menschen verbreiten dort Artikel, fragen, teilen sich und ihre Geschichten mit. Was sie alle eint, ist eine früher oder später getroffene Entscheidung: die Zeugen Jehovas zu verlassen. Seit einigen Tagen nun, seit den Ereignissen in Hamburg, läuft die Gruppe mit tausenden Nachrichten über. "Alle Aussteiger versuchen zu verstehen, wie die anderen die Tat bewerten. Da wird viel aufgewühlt, was die Betroffenen eigentlich hinter sich lassen wollen." O. ist selbst einer dieser Betroffenen, und doch viel mehr: Er ist Aussteiger– und naher Verwandter des mutmaßlichen Amokschützen Philipp F., des Allgäuers, der am Donnerstag in einer Hamburger Gemeinde mutmaßlich sieben Menschen und dann sich selbst erschoss. "Alle stehen unter Schock, alle verurteilen die Tat", sagt O. "Es gibt aber auch solche, die sagen: ,Eigentlich war zu erwarten, dass so etwas irgendwann passiert.'"
Wie Philipp F. wuchs auch Heinrich O. unter Zeugen Jehovas auf. Die Religionsgemeinschaft zählt nach eigenen Angaben in Deutschland rund 175.000 "Verkündiger", also aktive Mitglieder, davon rund 33.000 in Bayern. Ihre Versammlungsorte, die sogenannten Königreichssäle, sind nach außen gut sichtbar, auch an belebten Orten sind sie mit Aufstellern, Broschüren und der Zeitschrift "Der Wachtturm" sehr präsent. Was sich allerdings in den Gemeinden abspielt, bleibt für Außenstehende meist im Verborgenen.
Amoklauf in Hamburg: Ehemaliger Zeuge Jehovas Philipp F. ist mutmaßlicher Täter
Heinrich O. hatte einst selbst eine verantwortliche Position innerhalb einer Gemeinde inne. Das Schlimmste, sagt er, sei das „Denunziantentum“ gewesen. „Ständig werden die Leute unter Druck gesetzt, kontrolliert – und dann, wenn sie auch nur eine Kleinigkeit falsch gemacht haben, stigmatisiert und gemobbt.“ Die Gemeinschaft basiere auf Gehorsam und Unterordnung - dies zeige sich insbesondere in einer Art interner Rechtsprechung. Als besonders vorbildlich geltende Gemeindemitglieder, die "Ältesten", bilden unter anderem das Rechtskomitee. Es tritt bei schweren Vergehen zusammen. Dazu können zählen: „sexuelle Unmoral“, Konsum von Tabak, „unmäßiges Essen“, „Abtrünnigkeit“ und „Misshandlung und sexueller Missbrauch von Kindern“. Eine Verhandlung endet in der Regel mit Freispruch, „leichten“ Sanktionen – dazu zählt der Entzug bestimmter Vorrechte – oder mit Ausschluss. Gerade das Verstoßen-Werden, so schildern es Ehemalige wie Heinrich O., sei gleichbedeutend mit dem "sozialen Tod". Ein psychisch enorm belastendes Schreckensszenario.
Auch "freiwillige" Aussteiger leiden. Nach Darstellung vieler Betroffener werden sie als "Abtrünnige" von der Gemeinschaft abgeschottet - selbst von den eigenen Kindern. Dieser "Gemeinschaftsentzug" ist gerade für Familien oft brutal, sagt Matthias Pöhlmann, Sektenbeauftragter der Evangelischen Kirche in Bayern. Er führe zu Konflikten. "Überhaupt erweist sich der Umgang mit ehemaligen Mitgliedern als sehr unbarmherzig", so Pöhlmann. Der Gemeinschaftsentzug solle nach offizieller Darstellung die Gemeinschaft "reinhalten".
Im Fall Philipp F., sagt Pöhlmann, sei es offensichtlich zu einer massiven Radikalisierung und einem "ausgeprägten Fanatismus" gekommen, hinzu komme der Waffenbesitz. Dies müsse man von Systemkritik an der Glaubenswelt der Zeugen Jehovas trennen. Gleichwohl führten die Drohbotschaften der Zeugen Jehovas bei Mitgliedern nach seinem Eindruck zu "massivem Druck: Sich angesichts des bevorstehenden Harmagedon noch stärker für die Sache Jehovas, etwa im Verkündigungsdienst, engagieren zu müssen." Die Lehre der Zeugen Jehovas orientiert sich eng an ausgewählten Bibel-Stellen, dazu zählt die zu "Harmagedon" - also eine endzeitliche Entscheidungsschlacht, bei der Ungläubige vernichtet und Zeugen Jehovas gerettet werden.
Sekten-Experte Pöhlmann sieht "psychischen Druck" bei Zeugen Jehovas
Die Institution wehrt sich dagegen, als "Sekte" bezeichnet zu werden, Pöhlmann nennt sie "christliche Sondergemeinschaft". Er verweist in diesem Zusammenhang aber auf "sehr problematische und konfliktreiche Aspekte" - "wie zum Beispiel das geschlossene Glaubenssystem, das Schwarz-Weiß-Denken und nicht zuletzt der elitäre Heilsanspruch". Auch er spricht von "psychischem Druck", der vom Glaubenssystem ausgehe. Die Konflikte und Verletzungen seien, wie Erfahrungsberichte von Aussteigern zeigten, "immens".
All die Belastungen, betont Ex-Zeuge Heinrich O., seien natürlich keine Rechtfertigung für eine Tat wie die seines Verwandten. "Die Menschen, die da gestorben sind, sind alle Unschuldige, Gefangene der Ideologie." Das Entsetzen unter Ehemaligen sei groß. "Fast alle fragen sich: ,Was, wenn ich dort gesessen hätte?' Viele sind ja bis vor kurzem in ihren Gemeinden ein- und ausgegangen und haben nach wie vor Familienmitglieder dort." 95 Prozent der Aussteiger fühlten Schmerz und Trauer. "Man merkt aber durchaus, dass sich bei einigen über die Jahre enorm viel angestaut hat, Wut und Verzweiflung, teils auch Hass auf die Institution." Innerhalb der Zeugen Jehovas werde das Attentat wohl zu keinem Umdenken führen - im Gegenteil: "Ich gehe davon aus, dass sie sich nun bestätigt sehen, dass der Teufel auf der Welt sein Werk verrichtet."
Auch der Augsburger Udo Obermayer war einst Zeuge Jehovas, bis er 2016 der Gemeinschaft den Rücken kehrte - und damit seine Familie verlor. Inzwischen sitzt er dem Verein „JZ Help“ vor, dessen Ziel nach eigenen Angaben unter anderem ist, "Betroffenen" von Zeugen Jehovas zu helfen - also etwa Aussteigern. Obermayer verweist auf frühere Taten ehemaliger Zeugen Jehovas - etwa 2009, als wohl nur ein Zufall verhinderte, dass ein 82-Jähriger in Bielefeld ein Blutbad anrichtete. Die Maschinenpistole in seinen Händen war voll funktionstüchtig, der Mann schaffte aber nicht zu schießen. "Die Täter, auch der in Hamburg, haben sicher schwere psychische Probleme - aber die Doktrin der Zeugen Jehovas befördert sie noch", betont Obermayer. Er gehe davon aus, dass der Anteil psychischer Erkrankungen unter Zeugen Jehovasüberdurchschnittlich hoch sei - und befürchte, dass es auch Nachahmer-Taten geben könnte. "Es gibt Tausende, die schlimme Erfahrungen gemacht haben. Da muss man sich schon Sorgen machen."