Als Josef Baur, 84, und Paul Jakob, 86, die schwere Kirchentüre von St. Vitus und Katharina in Rehling bei Augsburgöffnen, empfängt sie ein Ave Maria. Sie setzen sich, wie sie es stets tun, und stimmen mit ein, wie sie es stets tun.
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.
17 Menschen verteilen sich an diesem Abend auf die hinteren Kirchenbänke, neun Frauen links des Mittelgangs, fünf Männer und drei Frauen rechts, Durchschnittsalter sichtbar über siebzig, zwei abgestellte Rollatoren. Ein wenig verloren wirken sie im langen Kirchenschiff, wie sanfte Wellen wogen ihre Stimmen von der einen zur anderen Seite. Mal erfüllen die Stimmen der Männer den Raum, mal die der Frauen. So beten sie, Rosenkranzketten in Händen, Perle für Perle, den Blick nach vorn zum Altar oder auf den Schoß.
Die Gläubigen achten darauf, dass das Gebet nicht verstummt
Paul Jakob wird dazu sagen: "Ein Rosenkranz ist ja nicht nur ein Gebet, er ist auch Therapie." Josef Baur wird nicken und sagen: "Man muss eine Gemeinschaft sein."
In Rehling und seinen Ortsteilen Unterach und Allmering beten Gläubige seit bald 80 Jahren den Rosenkranz. Jeden Tag, bislang ohne Unterbrechung, erzählen sie, und man darf es ihnen glauben. Sie achten darauf, dass das Gebet nicht verstummt, dass ausreichend Gläubige zusammenkommen, sollte jemand im Stall sein, in der Arbeit, im Krankenhaus oder Urlaub.
Es ist eine erstaunliche Geschichte. Umso erstaunlicher in einer Zeit, in der Christen eine, wenn auch große, Bevölkerungsminderheit geworden sind; in der sich selbst Kirchenmitglieder fragen: Wer besucht überhaupt den Gottesdienst, und warum? Wer betet, gar den Rosenkranz, und für wen oder was?
Kirche ist in der Krise – doch der Glaube kann auch tief verankert sein
Zahlen bilden einen Teil der Antworten. Die Deutsche Bischofskonferenz und die 27 katholischen (Erz-)Diözesen werden in wenigen Wochen ihre "Kirchenstatistik" für das Jahr 2022 veröffentlichen. Für 2021 ist in die Statistik eingegangen, dass durchschnittlich 4,3 Prozent der Kirchenmitglieder am Gottesdienst teilnahmen. Knapp 360.000 Menschen traten aus. Das entspricht der Einwohnerzahl Augsburgs und einiger Gemeinden im Umland.
Die Statistik kündet von einer Kirche in der Krise, aber sie erzählt nichts davon, wie tief verankert der Glaube sein kann.
Davon erzählt nun Emerenzia Strobl, weißes Haar, wacher Blick, an ihrem Esstisch in Unterach, gleich in der Nähe der Filialkirche, die dem heiligen Wolfgang geweiht ist. Fünf Bänke links und rechts des Ganges, Kissen, Decken, 1952 erstmals nach Kriegsende außen renoviert, innen an den Seiten inzwischen wandhohe Risse, vorne eine schwarze Madonna, hinten in einem Schränkchen ein Liedblatt mit dem "Wolfganglied": "Wir rufen dich, St. Wolfgang, an, dass Gottes Heil uns werde. Steh deinem Volk, St. Wolfgang, bei, dass Gottes Geist uns schaffe neu in Glaube, Hoffnung, Liebe!"
96-Jährige kann sich an die Anfänge des Rosenkranzbetens erinnern
Strobl kann sich an den Zweiten Weltkrieg ebenso erinnern wie an die Ursprünge des Rosenkranzbetens in Rehling, Unterach und Allmering. Es ist eine Frage der Zeit, bis niemand mehr da sein wird, der sich erinnern und als Augenzeuge berichten kann. Der Hauptort Rehling hatte, Stand November 2021, 1318 Einwohnerinnen und Einwohner, Unterach 215, Allmering 75. Im Jahr 1987 waren 90,5 Prozent der Gemeinde römisch-katholisch, 2011 waren es 76,4 Prozent, 2022 64,99 Prozent.
Vielleicht wird es sein wie bei Wellen, die am Strand auslaufen, vielleicht wird es abrupt enden wie nach dem letzten Wort des täglichen Rosenkranzgebets.
Emerenzia Strobl weiß das. 96 Jahre ist sie alt, und eigentlich wollte sie nicht ausführlich von früher reden. Doch sie macht sich Gedanken, was passieren könnte, würde diese Tradition nicht weiterleben. Besser würde die Welt gewiss nicht. Bloß was tun, wenn man schlechter zu Fuß werde? Wenn der Gang in die Kirche zu beschwerlich sei? Viele seien gestorben, und die Jüngeren hätten kein Interesse. An der Kirche nicht und erst recht nicht am Rosenkranz. "Mindestens zwei Beter sollten es in der Kirche sein", sagt Strobl. "Aber wer weiß, wie lang noch, wer weiß, wie lang?"
Alles begann am 25. April 1945
Wann immer es ihr möglich war in den vergangenen Jahrzehnten, ist sie zum Rosenkranzgebet gegangen. "Freilich ist man alle Tag gangen", antwortet sie auf die etwas ungläubige Frage mit einer Bestimmtheit und Selbstverständlichkeit, die keinen Raum für Zweifel lässt. Für Strobl handelt es sich um ein Wunder, dass ihre Heimat von den Kriegswirren des Jahres 1945 weitgehend verschont blieb. Und der Rosenkranz, den sie schon zuvor gebetet hätten, ganz gewiss schon 1944, habe zu diesem Wunder beigetragen. "Unser Gebet wurde erhört."
Im Sterberegister nachzulesen ist der Satz: "Am Markustag, 25. April 1945, verlobte sich die Pfarrgemeinde zur lieben Gottesmutter mit ... täglichem Rosenkranz auch nach dem Krieg."
Eine Verlobung der Pfarrei an die Gottesmutter also, eine Art Schwur, eine Verpflichtung, dass man sich gemeinsam auf den Weg begibt, in verschiedenen Lebensumständen – zu einem "Wir" in der Liebesgemeinschaft mit Jesus, wie Papst Franziskusüber die Verlobung schrieb.
Glaube, Hoffnung, Liebe. Dank.
1945 war es unsicher, ob Rehlinger in Frieden würden leben können
Der Satz über den Markustag wiederum stammt von Heribert Lohner, dem einstigen Pfarrer von Rehling, 1901 geboren, der Vater aus Allmering. Er beschrieb auch das Kriegsende. Es müssen dramatische Tage gewesen sein, man hatte Angst vor einer Bombardierung, Emerenzia Strobl, Josef Baur und Paul Jakob bezeugen es. Pfarrer Lohner vermerkte: "Am 13. April 1945 wurde ein Kommando Nachrichtentruppen nach Rehling gelegt. Am 15. April ein Kommando Infanterie. Am 22. April kamen neue Truppen."
Wenn Emerenzia Strobl die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine hört, muss sie an jene Tage denken. "Viele Leute meinen, wenn der Putin die Ukraine erobert, dass er dann Halt macht – gar nie, nie!", sagt sie. Schlimm sei das alles, schlimm. "Wir können dankbar sein, dass wir so lange in Frieden leben durften."
Ob die Bewohner Rehlings in Frieden würden leben können, war 1945 unsicher. Am 26. April seien ein SS-Verband und Hitlerjugend nach Rehling gekommen, in derselben Nacht aber wieder abgezogen, schrieb Lohner. Eine Abordnung der Bauern habe den Ortskommandanten erfolglos um Abzug der Truppen gebeten. "Von Donnerstag, den 26. April, abends 10 Uhr, bis Freitag, den 27. April, morgens 5 Uhr, wurde Rehling von Biberbach aus mit Artillerie beschossen. Es entstanden nur geringe Schäden.
Rehling hätte von Tieffliegern in Brand geschossen werden können
Am Waldrand, entlang der Straße zwischen Allmering und Gamling, wurden nun Werferbatterien mit acht Geschützen, acht schweren Nebelwerfern, in Stellung gebracht. Am Funkturm (Harthof) eine Flakbatterie. Widerstandsnester mit Maschinengewehr und Panzerfaust wurden im Lechfeld bei der Brücke und zwischen St. Stephan und Kagering angelegt. Feuer in verschiedenen Häusern von Oberach, am Berghang von Rehling, Au und Scherneck. Von Donnerstag abends bis Sonntag lebte die Bevölkerung in den Kellern."
Lohner schrieb: "Am Samstag, dem 28. April 1945, drangen die amerikanischen Kampfwagen von Thierhaupten und Unterach kommend in Oberach ein. Nach kurzem Gefecht übergab der Bürgermeister von Rehling und der Ortsführer von Au die Gemeinde mit weißer Fahne. ... Rehling befand sich in größter Gefahr am Samstag, ähnlich wie Gebenhofen, von Tieffliegern in Brand geschossen zu werden." Der Ort habe "ein Hauptpunkt der Verteidigung" Augsburgs vor den heranrückenden US-Soldaten werden sollen. Daher die Sprengung der Lechbrücke am 27. April.
Es verlief anders, Lohner schloss: "Wir danken unsere Rettung der Fürbitte der lieben Gottesmutter."
Baur: "Es war wie ein Wunder"
Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt den Geistlichen, wie er die 1952 neu errichtete Lechbrücke segnet, neben ihm zwei Ministranten, einer ist Josef Baur, einen Weihwasserkessel umklammernd. Baur blickt auf das Foto, er hat es eine Weile nicht gesehen. Mit Paul Jakob hat er sich auf den Bänken vor der Rehlinger Pfarrkirche niedergelassen, am Mahnmal für die Gefallenen und Vermissten, die abendliche Sonne wärmt sie. Baur ist vor acht Jahren zu den Rosenkranzbetern gestoßen. Für ihn hat der Rosenkranz eine Bedeutung über das historische Versprechen hinaus.
Er hatte vier Schlaganfälle, nach dem letzten, 2015, konnte er nicht mehr reden und schreiben, sagt er mit durchgestrecktem Oberkörper. Auf Kur in Bad Gögging sprach ihn in einer Kirche eine Frau an, sie sei schlecht beieinander, könne den Rosenkranz nicht beten. Ihr Mann habe ihn gefragt, ob er einspringen würde. Baur sagt, er sei danach zwei Wochen Tag für Tag zum Rosenkranz. "Es war wie ein Wunder: Nach 14 Tagen war es viel besser, ich konnte sprechen." Seitdem komme er täglich zu St. Vitus und Katharina. Wer ihn nicht kennt, bemerkt die Folgen seiner Schlaganfälle nicht, zumindest nicht sofort.
Jetzt erzählt Paul Jakob, regelmäßiger Rosenkranzbeter seit gut 30 Jahren, und bereits als Kind dabei mit seinen Eltern. Ihr Nachbar war jener Rehlinger Bürgermeister, der die weiße Fahne schwenkte. "Wo heute der Kreisverkehr in Oberach ist, da war er gstanden", sagt Jakob mit geübter Rednerstimme, allein 15 Jahre war er Vorsitzender des Musikvereins. Er sagt es so, als habe er ihn gerade vor Augen. "Es gab Brände, aber keine Toten, es ist nichts passiert." Baur weiß noch, wie sie im Kartoffelkeller waren und der Nachbar schrie: "’Kommt’s raus, der Ami is scho da!’ Wir haben sie vorbeifahren sehen." Später lasen die beiden, acht und sechs Jahre alt, die weggeworfenen Zigarettenkippen der US-Soldaten auf. In einer Wirtschaft spülten sie für diese das Geschirr und bekamen Schokolade. Sie lächeln.
Verkündung 1945 in der Pfarrei durch Pfarrer Lohner
Nun wieder Jakob: Pfarrer Lohner habe die Verlobung der Pfarrei an die Gottesmutter 1945, am Gedenktag des Evangelisten Markus, in der Kirche verkündet. "Wir beten täglich den Rosenkranz", habe er gesagt, und die Leute hätten getan, wie ihnen aufgetragen. Er sei streng gewesen, aber ein feiner Mann. Dass sie nicht aufhörten zu beten, in wechselnden Zusammensetzungen, jahrzehntelang? "Man hätte ja sagen können: Das Gelübde hat nur der Pfarrer Lohner abgelegt, mit seinem Tod 1984 endete es", überlegt Jakob laut. "Aber so kam es nicht, auch wenn wir in Rehling inzwischen samstags ab und zu eine Pause einlegen." Gekürzt hätten sie den Rosenkranz, wenn es terminlich nicht anders gegangen sei, statt zehn fünf Ave Maria. "Doch wir waren da und haben gebetet, jeden Tag", sagt er, und fragt, ob man wissen wolle, warum auch in Unterach und Allmering, dort in der Herz-Jesu-Kapelle, gebetet werde? Er holt Luft – im Winter wollten die Leute nicht nach Rehling gehen bei Dunkelheit, Schnee und Sturm.
... O mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden, bewahre uns vor dem Feuer der Hölle, führe alle Seelen in den Himmel, auch jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.
Damit endet das Rosenkranzgebet an diesem Tag um 18.58 Uhr nach einer halben Stunde. Stille macht sich breit. Eine der Frauen nimmt ihre Brille ab, eine andere blättert im Gesangbuch. Um 18.59 Uhr beginnt der Abendgottesdienst, zu dem die Kirchenglocken schon rufen. Was sagte vorhin die 96-jährige Emerenzia Strobl? Sie wolle sich eine Krücke besorgen, dann könne sie wieder in die Kirche.