Bahn-Streik, Flughafen-Streik, Postbank-Streik - erst wenn es nicht mehr rund läuft, merken viele Menschen, welche Berufe dafür sorgen, dass wichtige Dienste im Alltag funktionieren. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn alle Pflegekräfte im Land gleichzeitig so lange streiken würden wie beispielsweise die Lokführer. Um Streiks zu verhindern, versuchen Interessengruppen im politischen Vorfeld Kompromisse zu finden. Das Problem in Bayern: Für professionelle Pflegekräfte gibt es keine Organisation, die sich um die Belange von allen Pflegerinnen und Pflegern gebündelt kümmert. Durch ein neues Gesetz will die Staatsregierung den Einfluss der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB) vergrößern. Allerdings scheinen viele Pflegekräfte gar kein Interesse an ihrer Vertretung zu haben.
In den letzten Jahren haben sich in vier Bundesländern sogenannte Pflegekammern gegründet. In diesen Kammern sind die Pflegekräfte des jeweiligen Bundeslandes verpflichtete Mitglieder, sodass die Kammer tatsächlich für alle Pflegenden sprechen kann. Doch mittlerweile sind die Kammern in zwei Ländern schon wieder aufgelöst worden - weil die Pflegekräfte sie nicht wollten. So haben sich mehr als 90 Prozent der Pflegenden bei einer Abstimmung in Schleswig-Holstein gegen die Kammer ausgesprochen. Und auch in Baden-Württemberg droht eine Kammergründung an einem Votum unter Pflegenden zu scheitern.
Die Pflichtbeiträge sind ein Hauptproblem für Pflegekammern
"Unsere Berufsgruppe ist enttäuscht von der Politik", sagt Robert Koch. Er ist ausgebildeter Krankenpfleger und Mitglied des baden-württembergischen Kammergründungsausschusses. "Wir mussten erleben, dass gerade erst in der Coronakrise wieder viel versprochen, aber nichts umgesetzt wurde." Viele würden nicht sehen, was ihnen eine Kammer bringt, weil diese lediglich auf der politischen Ebene agiere. Darum wären sie nicht bereit, einen Pflichtbeitrag zu bezahlen.
Der "bayerischen Weg" sieht darum vor, dass Pflegende freiwillig Mitglied der VdPB werden können. Seit 2019 haben sich jedoch gerade einmal 4000 Pflegekräfte dafür entschieden – von rund 120.000 Pflegekräften, die es schätzungsweise in Bayern gibt. Ihre genaue Zahl kennt niemand, was die Planung in Krisensituationen wie beispielsweise der Coronapandemie enorm erschwert.
Die Registrierungspflicht für Pflegekräfte ist ebenfalls umstritten
Die Staatsregierung hat also ein konkretes Interesse an einer Registrierung, weil sie wissen will, wie viele Pflegende es im Freistaat überhaupt gibt. Daher wollen CSU und Freie Wähler nun eine Registrierungspflicht für Pflegekräfte durchsetzen. Das Vorhaben ist aber umstritten. Pflegerinnen und Pfleger, die sich weigern, droht im Zweifelsfall der Entzug ihrer Berufszulassung. "Harten Tobak" nennt das Peter Baumeister. Er ist Professor für Recht der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule in Baden-Württemberg, und er begleitet den Gesetzentwurf als Sachverständiger. So eine Drohkulisse führe seiner Ansicht nach nicht zum Ziel: "Man muss die Pflegenden überzeugen. Aber das braucht Zeit", sagt er.
Anders sieht das Andrea Kuhn von der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen. "Ich verstehe das ganze Konstrukt nicht. Erst kommt die Mitgliedschaft, dann die Registrierung." Sie ist dafür, vor allem um die Pflichtmitgliedschaft zu werben. Mit dem bayerischen Weg hätte man weder eine starke Interessenvertretung noch würde man eine Pflicht umgehen. Als Teil des rheinland-pfälzischen Gründungsausschusses hat Kuhn eine der beiden noch existierenden Pflegekammern mit aufgebaut.
Auch ohne Pflichtbeitrag sind die Pflegenden nicht begeistert von der Kammer
In der anderen noch bestehenden Kammer in Nordrhein-Westfalen müssen die Pflegekräfte bis 2027 keinen Beitrag zahlen. Trotzdem hat sich bislang nicht einmal die Hälfte mit Name, Wohnort und Tätigkeitsbereich registriert. "Unsere Berufsgruppe ist nicht gerade freudig auf neue Strukturen. Und sie ist auch nicht leicht zur Selbstverwaltung zu bewegen", erklärt VdPB-Präsident Georg Sigl-Lehner.
Dass das nicht überall gilt, zeigt ein Blick ins Ausland. So gibt es beispielsweise in Schweden, Großbritannien, Kanada und den Niederlanden eine etablierte Pflege-Lobby. Allerdings sind in diesen Ländern auch die Befugnisse der Pflegekräfte weitreichender. Das Verhältnis von Ärzteschaft und Pflegenden ist mehr auf Augenhöhe, als es hierzulande der Fall ist. "Das System in Deutschland ist stark auf die Ärzte ausgerichtet. Als Pfleger muss ich für viele Kleinigkeiten um Erlaubnis fragen", sagt Peter Koch.
Dass die Interessenvertretung nicht klar geregelt ist, ist im Übrigen auch ein Grund dafür, dass Pflegekräfte so selten streiken. Wenn, dann streikt meist nur eine kleine Gruppe, die alleine nicht besonders schlagkräftig ist. Trotzdem haben es im Sommer 2022 die Pflegerinnen und Pfleger von sechs Unikliniken in NRW unter der Führung der Gewerkschaft Verdi geschafft, gemeinsam ihre Arbeit für elf Wochen am Stück niedergelegt. Bislang eine Seltenheit.