Nummer 585 ist als Erstes dran. Dr. Christoph Müller streift sich einen kniestrumpflangen Plastikhandschuh über seinen linken Arm, um den rechten schnallt er sich einen Monitor, an dem über ein Kabel ein Ultraschallkopf befestigt ist. Müller, Tierarzt aus Zusmarshausen im Landkreis Augsburg, will wissen, ob die Kuh, die da vor ihm steht, trächtig ist. Die Untersuchung, die dem schlanken Mann einen beträchtlichen Körpereinsatz abverlangt, dauert nur wenige Sekunden. „Alles bestens. Die ist trächtig“, sagt Müller und nickt Landwirt Johannes Holland zu, der neben ihm steht und das Untersuchungsergebnis auf einem Zettel notiert. Die Nummern aller Kühe, die an diesem kühlen Oktobernachmittag in seinem Stall in Horgauergreut untersucht werden, hat Holland auf das Stück Papier geschrieben. Wer trächtig ist, bekommt ein Pluszeichen. So wie Nummer 585.
Der Tierarzt schaut sich eine Kuh nach der anderen an. Für Müller, kurze braune Haare, langer grüner Kittel, Gummistiefel, ist der Besuch im Stall ein Routinetermin. Meist hat er für den Landwirt gute Nachrichten, bei einigen Kühen indes diagnostiziert er Zysten, einmal macht ihm ein trübes Fruchtwasser Sorgen. Das will er sich beim nächsten Mal noch einmal anschauen. Seit zehn Jahren arbeitet Müller als Tierarzt – und zwar für Nutztiere, behandelt also vor allem Rinder und Schafe. Damit gehört der Landtierarzt quasi zu einer bedrohten Art. Denn es gibt immer weniger Menschen, die den Job machen wollen.
Studie sagt eine gravierende Unterversorgung mit Tierärzten voraus
Einer Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München zufolge ist in den kommenden Jahren in einigen Regionen Bayerns mit einer gravierenden tierärztlichen Unterversorgung zu rechen, vor allem bei Betrieben, die Rinder halten. Gab es in Bayern 2014 noch knapp 1200 niedergelassene Tierärzte für die Versorgung von Nutztieren, sind es aktuell nur noch knapp 740 – eine rasante Talfahrt, die nur schwer zu bremsen ist. Was ist da mit dem Beruf passiert, dass man inzwischen händeringend nach Personal suchen muss und in Tiermedizinerkreisen eher über Burn-out als über Besamungen und Bissverletzungen gesprochen wird?
Durch den Stall in Horgauergreut weht ein frischer Herbstwind, vom Boden wird Stroh aufgewirbelt, man hört das Schnauben und Kauen der Tiere. Müller zieht seinen Handschuh aus und geht zum Auto. Ein paar Kühe bekommen eine Hormonspirale eingesetzt, die Utensilien hat er alle dabei. „Ich arbeite sehr gerne mit den Bauern zusammen“, sagt Müller. „Ich bin ja auf dem Land aufgewachsen, da hat man eine Verbindung zu den Menschen hier.“ Und klar, es gebe schon Momente, die noch diesem romantischen Bild eines Landtierarztes gerecht würden, sagt Müller. „Aber das sind Ausnahmen. Leider muss ich sagen, dass ich den Frust, der bei den Tierärztinnen und Tierärzten entstanden ist, teile.“
Viele Absolventen gehen nach dem Studium lieber in ein Amt
Dieser Frust, von dem Müller spricht, bricht sich in der Branche immer mehr Bahn. Kein Wunder, meint der Tierarzt. Die Belastungen seien schließlich enorm, die Arbeitszeiten schwierig. „Die Landwirte rufen mich auch mitten in der Nacht an. Weil ich eben ihr Tierarzt bin. Und weil man natürlich nie vorhersehen kann, dass ein Tier krank wird.“ Auf Dauer werde das vielen seiner Berufskollegen zu viel – oder sie lassen sich erst gar nicht darauf ein, meint Müller. „Viele gehen nach dem Studium in keine Praxis, sondern in ein Amt, wo es geregelte Arbeitszeiten gibt. Gerade, wenn man Kinder hat, ist das natürlich eine Entlastung“, sagt Müller.
Um zu verstehen, warum der Beruf heute oft nur noch wenig mit dem idyllischen Bild von einst zu tun hat, muss man ein paar Jahrzehnte zurückblicken. Der Strukturwandel im ländlichen Raum, der vor etwa 25 Jahren begonnen hat, habe vieles verändert, erklärt Dr. Iris Fuchs, die Präsidentin der bayerischen Landestierärztekammer. „Damals gab es noch viele kleine Betriebe und viele kleine Tierarztpraxen. Später hat sich dann die Tierhaltung auf Großbetriebe konzentriert. Da hat sich einiges verschoben“, sagt Fuchs. Die Arbeitsbelastung sei im Zuge dieses Umbruchs enorm gewachsen, fährt die Veterinärmedizinerin fort. „24 Stunden, 365 Tage im Jahr. Heute sagen die jungen Menschen: Das machen wir nicht mehr mit, wir lassen uns nicht ausbeuten.“ Und zu den langen Arbeitstagen kommt noch etwas Erschwerendes hinzu: Im Rahmen des Strukturwandels habe es viele neue Verordnungen der EU gegeben, sagt Fuchs. Strenge Vorgaben des Gesetzgebers, die die Arbeit weiter verkomplizierten.
Tierarzt Müller: "Das ist ein bürokratischer Terror"
Tierarzt Müller findet dazu deutliche Worte. „Diese ganze Dokumentiererei, das ist ein bürokratischer Terror“, sagt er. Müller sitzt in der Küche der Tierarztpraxis an einem dunklen Holztisch. Auch seine Eltern, beide ebenfalls Tierärzte, sind da, um mit ihm eine Tasse Kaffee zu trinken. Über das, was ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen aufgebürdet werde, könne er sich jeden Tag aufregen, sagt er. „Es gibt zum Beispiel ein neues Antibiotikamanagement. Ich muss jetzt jede Antibiotika-Gabe in einer Datenbank melden. Dafür sitzt man oft stundenlang im Büro und tippt das ein“, sagt Müller und ergänzt: „Wir haben jetzt 15.000 Euro in eine neue Praxissoftware investiert, um den ganzen bürokratischen Aufwand besser in den Griff zu bekommen.“
Zum Teil passierten auch absurde Dinge, erzählt Müller. Er spricht schnell, energisch. Man merkt, dass ihn das alles unheimlich ärgert. „Es ist zum Beispiel schon passiert, dass ein Gesetz zum ersten Januar in Kraft getreten ist, aber die technischen Voraussetzungen noch nicht existierten. Dass es etwa die Online-Plattform, an die gemeldet werden muss, noch gar nicht gab“, berichtet der Tierarzt. „Das sind Dinge, bei denen wir Praktiker uns einfach verarscht vorkommen.“
Hilft eine Landtierarztquote gegen den Mangel?
Dass es einen eklatanten Mangel an Personal gebe, wundert Müller nicht. Er und seine Familie bekommen das Problem derzeit hautnah zu spüren. Im Februar haben sie eine Tierarzt-Stelle ausgeschrieben – bisher gab es einen einzigen Bewerber. Der hatte sich letzten Endes für eine deutlich lukrativere Stelle in der Schweiz entschieden. „Und das, obwohl wir schon überdurchschnittlich viel bezahlen“, sagt Müller. „Für die Stelle, die wir ausgeschrieben haben, zahlen wir das Doppelte von dem, das ich damals nach fünf Jahren als promovierter Tiermediziner verdient habe.“ Müller blickt hinaus in das Grau dieses Oktobertages, hält kurz inne, als würde er nicht nur in den wolkenverhangenen Himmel, sondern auch ein bisschen in die Zukunft schauen, und sagt dann: „Wenn ich irgendwann meinen Angestellten mehr bezahle als mir selbst und sie auch noch mehr Urlaub haben als ich, dann muss ich etwas ändern. Ich sehe mich nicht gezwungen, mein Leben lang an dieser Praxis festzuhalten.“ Müllers Eltern, die die Praxis, in der mehrere Tierärztinnen und Tierärzte sowohl Groß- als auch Kleintiere behandeln, aufgebaut haben, nicken. Sie könnten ihren Sohn verstehen, sagen sie.
Weil sich die Situation immer mehr zuspitzt und gerade Tierärztinnen und Tierärzte für die Versorgung von Nutztieren fehlen, hat die bayerische Staatsregierung im September die Einführung einer Landtierarztquote angekündigt – wenn auch zunächst ohne Nennung eines konkreten Zeitplans. Im Kern würde eine solche Quote bedeuten, dass auch Interessentinnen und Interessenten mit einer etwas schlechteren Abitur-Note einen Studienplatz für Tiermedizin bekommen könnten – jedenfalls dann, wenn sie sich verpflichten, nach dem Studium in bestimmten bayerischen Regionen tätig zu werden, in denen der Mangel besonders gravierend ist. Als Vorbild dient die bereits existierende Landarztquote in der Humanmedizin. Dort werden bis zu fünf Prozent der Medizinstudienplätze an Bewerberinnen und Bewerber vergeben, die sich vertraglich verpflichten, sich später als Hausarzt in einem unterversorgten Gebiet niederzulassen. Die Einführung einer Landtierarztquote sei Teil einer umfassenden Zukunftsstrategie, heißt es im Bericht des bayerischen Kabinetts. Ziel sei es, den Tierarztberuf auf dem Land, insbesondere in der Nutztierpraxis, attraktiver zu gestalten, „um möglichen Versorgungslücken frühzeitig entgegenzuwirken.“ Umwelt- und Wissenschaftsministerium sollen nun ein Konzept ausarbeiten.
Studie: Tierärzte denken überdurchschnittlich oft an Suizid
Dass der Beruf oft wenig attraktiv, sondern enorm belastend ist, zeigen die Ergebnisse einer deutschlandweiten Studie, die die Bundestierärztekammer vor einigen Jahren veröffentlicht hat. Das erschreckende Ergebnis: Tierärztinnen und Tierärzte, egal ob für Haus- oder Nutztiere, sind häufiger suizidgefährdet als andere Berufsgruppen. Akute Suizidgedanken traten demnach bei 19,2 Prozent der Befragten auf – in der Allgemeinbevölkerung sind es 5,7 Prozent. Klinisch relevante Symptome einer Depression gab es bei 27,8 Prozent der Tierärztinnen und Tierärzte, das ist fast siebenmal so viel wie in der Allgemeinbevölkerung. Die genauen Ursachen sind nicht ganz klar, die Verfasser der Studie führen aber etwa das Einschläfern von Tieren an, das von Tierärzten eben besonders oft durchgeführt werden muss. Im Bericht der Bundestierärztekammer heißt es, in einer US-Studie sei herausgefunden worden, „dass häufige Euthanasien bei Haustieren die Belastungen durch diese im Sinne eines Gewöhnungseffektes senken“. Dieser Gewöhnungseffekt würde dazu führen, „dass die Furchtlosigkeit vor dem Tod ebenfalls sank“. Diese schwindende Angst vor dem Sterben spiele bei der Betrachtung von Suiziden als „psychologischer Risikofaktor eine wichtige Rolle“.
Fuchs, die Veterinärmedizinerin der bayerischen Landestierärztekammer, glaubt, dass vielen jungen Menschen, die ein Tiermedizin-Studium beginnen, die Herausforderungen nicht bewusst seien. „Das, was man im Fernsehen in Tierarztserien zu sehen bekommt, ist nicht real. Es reicht einfach nicht, zu sagen: Ich habe ein Pferd, ich liebe Tiere, also studiere ich Tiermedizin.“ Tiere einzuschläfern gehöre zum Alltag, im Job gehe es „oft sehr blutig zu“, man müsse amtliche Schlachttier- und Fleischuntersuchungen durchführen. „Unser Beruf ist kein Streichelzoo“, sagt Fuchs.
Tierarzt über das Einschläfern: "Wir verkürzen damit Leiden"
Auch Tierarzt Müller hat schon oft Tiere einschläfern müssen. „Im Vergleich zu früher wird das heute öfter gemacht, weil die Tierschutzvorgaben immer strenger werden und man die Tiere schneller erlöst.“ Er selbst empfinde das Euthanasieren als nicht besonders belastend. „Wir verkürzen damit ja Leiden“, sagt Müller.
Im Stall von Johannes Holland in Horgauergreut wird auch über Leben und Tod gesprochen. Eine der Kühe, erst 20 Monate alt, hat eine Zyste, der Landwirt befürchtet, dass sie dafür anfällig sein und keine Kälber zur Welt bringen könnte. „Deswegen werden wir sie zum Schlachter bringen“, sagt er. Alltag auf einem Bauernhof. Und Alltag für Tierarzt Müller, der an diesem Nachmittag gut zwei Dutzend Kühe untersucht hat. Die meisten von ihnen sind trächtig, auf dem Zettel, den Landwirt Holland in der Hand hält, stehen viele Pluszeichen. So wie bei Nummer 585, die Kuh, die an diesem Tag als Erstes dran war.