Ein strahlendes Brautpaar. Er im schwarzen Anzug, Vollbart, Fliege. Sie ganz in Weiß. Das Foto hängt an der Wand im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer. Auf dem Kachelofen steht ein Bild, das drei Kinder zeigt. Die wohlgenährte Katze Jackie streicht umher. Sie setzt sich vor das Fenster, das den Blick auf einen gepflegten Garten inmitten einer mittelfränkischen Bilderbuchlandschaft erlaubt. Eine Idylle. Doch in diesem hübschen Haus in Wolframs-Eschenbach haben sich Dramen abgespielt. Innere Kämpfe. Es wurden viele Tränen geweint. Diskussionen geführt. Ängste ausgehalten.
Von alledem sieht man Sandra Wißgott nichts mehr an. Im Gegenteil. Gelassen sitzt sie auf ihrem Stuhl. Weißes T-Shirt. Schlichter Rock. Zarter Silberschmuck. Dezent geschminkt. Ruhig spricht sie, als sie ihre Lebensgeschichte Stück für Stück erzählt. Eine Geschichte, die großen Respekt verdient. Eine Geschichte, die sie unglaublich viel Mut gekostet hat und anderen Mut machen soll. Denn diese freundliche, offene Frau, die viel lacht, hat nicht immer so ungezwungen über die Wahl des Make-ups, schicke Pumps, gut aussehende Männer und weibliche Problemzonen plaudern können, wie sie es heute tut.
1961 in der Oberpfalz geboren, spürt sie bereits mit elf Jahren, dass etwas an ihr nicht stimmt. Der Satz, dass sie im falschen Körper geboren wurde, gefällt Sandra Wißgott nicht. „Das stimmt nicht. Es ist ja mein Körper. Ihm fehlten nur wichtige Attribute.“ Weibliche Attribute. Doch was tun, wenn man als Bub merkt, dass man lieber ein Mädchen wäre? Mit wem kann man sprechen? Wer hilft? Finden heute viele im Internet Leidensgefährten und Hilfe, steht diese Möglichkeit 1972 noch nicht zur Verfügung. Im Gegenteil. Erzkonservativ ist die Gegend. Transsexualität ist kein Thema. Hilfe gibt es nirgends. Zumindest nicht für Sandra Wißgott.
Sie probiert einfach heimlich die Kleider von Mutter und Großmutter an. Fühlt sich wohl in ihnen. Hinzu kommt, dass ein angeborenes Hüftproblem sie vom Sportunterricht befreit. Während die Jungs Fußball spielen, findet sie Anschluss bei Mädchengruppen. Sie freundet sich mit Mädchen an. Schließlich ist sie lange der Ansicht, dass sie ihr Bedürfnis nach mehr Weiblichkeit auch im Kontakt mit Frauen decken könne. Doch die Freude, sich weiblich zu kleiden, bleibt - und auch der Wunsch, eine Frau zu sein. „An der Universität in Bayreuth trug ich oft einfach einen BH, das sieht ja niemand“, erzählt Sandra Wißgott.
Dass es niemand sieht, war das Wichtigste. Über viele Jahre. Auch als sie schon verheiratet ist. Auch als sie ihrer Frau erzählt hatte, dass sie lieber eine Frau wäre. „Schon nach einem halben Jahr Ehe merkte ich, dass alles nicht reicht“, sagt sie. Zwar hat sie das große Glück, eine ausgesprochen verständnisvolle Partnerin und eine gute, vertrauensvolle Beziehung zu haben. Viele Ehen zerbrechen an so einem Geständnis. Doch Auseinandersetzungen, Ängste bleiben auch bei Sandra Wißgott und ihrer Frau nicht aus. Das geht gar nicht anders. Dennoch hält die Ehe. Bis heute. Seit 1991. In den Jahren 1993, 1995 und 1997 werden die drei Kinder geboren.
Ursprünglich hatten sie vereinbart, dass Sandra Wißgott bis zur Geburt der Kinder ihre weibliche Seite zu Hause in den eigenen vier Wänden ausleben darf. Doch auch danach war das Bedürfnis einfach zu groß. Sie schleicht sich – in Absprache mit ihrer Frau – aus dem Haus. An den Wochenenden kann sie ihre wahre Identität ein bisschen leben. Vor allem in großen Städten. Doch immer in der Angst, erkannt zu werden.
An ihrem Wohnort Wolframs-Eschenbach mit seinen etwa 3000 Einwohnern kennt sie so gut wie jeder. Schließlich leitet sie als Herr Wißgott über lange Jahre die Grund- und Hauptschule am Ort. Sie ist bei der Wasserwacht und beim Bayerischen Roten Kreuz engagiert und als tiefgläubiger Katholik acht Jahre lang Pfarrgemeinderatsvorsitzender.
Das jahrelange Versteckspiel und der damit verbundene extreme Leidensdruck setzen ihr aber immer mehr zu. Eine Borreliose-Infektion und ein Herzinfarkt führen im Jahr 2000 zum Zusammenbruch.
Sie kommt auf Reha. Es folgen Wochen, in denen sie ihr Leben Revue passieren lässt – „in denen ich mich gefragt habe, ob das überhaupt mein Leben ist“. Natürlich hat sie längst über das Internet Kontakte zu anderen Betroffenen. Auch in eine Selbsthilfegruppe geht sie.
Doch erst 2007 hält sie es nicht mehr aus: Sie entscheidet sich, ihr Geschlecht medizinisch einer Frau angleichen zu lassen. Und sie outet sich. Zuerst vor den Kindern. Ein schwieriges Unterfangen. Noch gut kann sie sich daran erinnern, wie wenige Wochen nach dem Gespräch mit den dreien ihr ältester Sohn in der Küche sitzt, weint und sie bittet, keine Frau zu werden. Zu groß war seine Angst, dass sich dann seine Eltern trennen könnten. Auch das Gespräch mit den Eltern ist nicht einfach. „Sie fielen am Anfang aus allen Wolken“, erinnert sie sich. „Und sie machten sich Vorwürfe, etwas in meiner Erziehung falsch gemacht zu haben.“ Die Outing-Gespräche im Schulamt und in dem kleinen Städtchen seien leichter als angenommen abgelaufen. Die Reaktionen wären überraschend positiv gewesen.
„Natürlich waren viele verunsichert, wie sie damit umgehen sollten“, erzählt die 55-Jährige. „Doch viele, von denen ich es nicht gedacht habe, unterstützten mich.“ Der katholische Pfarrer am Ort etwa. Das Schulamt. Die Eltern an der Schule. Als Herr Wißgott unterschreibt sie 2008 noch die Zeugnisse. „Wenige Tage später, am letzten Schultag, bin ich dann endlich als Frau in die Schule gegangen.“ Der Elternbeirat reagiert prompt und schenkt ihr zum Abschied eine Halskette. „Aus heutiger Sicht hätte es den Abschied gar nicht gebraucht.“ Für drei Jahre ging sie dann nach Nürnberg. Heute leitet sie die Grund- und Mittelschule im neun Kilometer von Wolframs-Eschenbach entfernten Windsbach. Fragen zu ihrem Geschlecht kämen nur noch selten. Sie geht ja offen mit ihrer Biografie um.
Heute ist es ihr vor allem wichtig, dass andere sich trauen, ihren Weg zu gehen. Weil ihr selbst so viel geholfen wurde und weil sie weiß, wie viel Unterstützung nötig ist, gründet sie 2009 die Selbsthilfegruppe „Trans-Ident“, die heute ein Verein mit zwölf angeschlossenen Selbsthilfegruppen und einer Beratungsstelle ist. Sie berät Transsexuelle und ihre Angehörigen, hält Vorträge, etwa an Schulen und Universitäten, klärt an Gesundheitstagen über Transsexualität auf.
Erreichen will sie vor allem auch, dass Transsexualität nicht mehr als Persönlichkeitsstörung bei den Krankenkassen, die die Geschlechtsangleichung bezahlen, eingestuft wird. Transsexualität sollte als körperliche Anomalie angesehen werden. Zu stigmatisierend sei der Begriff „Persönlichkeitsstörung“. Gerade Arbeitgeber reagierten oft skeptisch. Aufklärungsarbeit tut not. Denn Sandra Wißgott weiß von vielen Menschen in allen Berufsgruppen, die eine leidvolle Doppelexistenz führen – vom Pfarrer bis zur Marketingchefin.
Und was macht Sandra Wißgotts Frau beruflich – wie geht sie überhaupt mit der Situation um? Sie ist gelernte Bankkauffrau, arbeitet aber seit vielen Jahren bei „Kiss Mittelfranken“, einer Selbsthilfekontaktstelle. Das heißt, sie hilft bei der Aufklärungsarbeit über Transsexualität. Wer das Bild des Brautpaares vor dem Hintergrund dieser ganzen Geschichte betrachtet, versucht sich vorzustellen, was sie zusammen durchgemacht haben. Der Gedanke an Trennung war immer wieder einmal da. Von beiden Seiten. Doch Sandra Wißgott sagt: „Das Bedürfnis, als Familie zusammenzubleiben, war immer stärker.“
Der Verein „Trans-Ident“ hilft Betroffenen und Angehörigen. Weitere Informationen unter www.trans-ident.de