Ehrfürchtig streicht Stadtarchivar Wilfried Sponsel über das angegilbte Papier. Nur selten nimmt er die historischen Dokumente aus ihren Kartons. Die unscheinbaren Pappkisten lassen nicht erahnen, welcher Schatz im engen Magazin des Nördlinger Stadtarchivs verborgen liegt. Zu viel Licht könnte den losen, mit Tinte beschriebenen Blättern schaden. An manchen Stellen ist die Schrift über die Jahrhunderte verblasst, doch das meiste ist lesbar. Es sind Verhörprotokolle aus einem dunklen Kapitel der kleinen schwäbischen Stadt – sie stammen aus der Zeit der Hexenverfolgungen im 16. Jahrhundert.
Sponsel steht im Leseraum des Stadtarchivs. An den Wänden Regale mit unzähligen Büchern, davor ein wuchtiger Schreibtisch. Ein ruhiger Arbeitsplatz. Zwei- bis dreimal im Jahr kommen Interessierte vorbei und wollen die Verhörprotokolle einsehen – meist Studentinnen, Schülerinnen oder Wissenschaftlerinnen. „Es ist selten, dass sich ein Mann für das Thema interessiert“, sagt Sponsel. Es seien eben Frauenschicksale, um die es hier gehe. „Die Männer waren ja die Täter.“ Männer, die Frauen unter Folter zwangen, sich als Hexen zu bekennen.
Geständnisse unter Schmerzen
Die ihnen Geständnisse entlockten, die keinen Wahrheitsgehalt enthielten, weil fast jede unter Schmerzen nahezu alles gestand. Einmal seien es zwei ältere Männer gewesen, die einen Blick in die Akten hätten werfen wollen, sagt Sponsel. Nachfahren Rebekka Lemps, die im September 1590 auf dem Scheiterhaufen starb. Sie war von einer anderen angeklagten Frau der Hexerei bezichtigt worden und ins Verlies gekommen, als ihr Mann gerade auf Geschäftsreise war. Nach fünfeinhalb Wochen Haft und mehrfacher Folter schrieb sie ihm einen Brief. Der Stadtarchivar übersetzt das alte Deutsch der Mutter von sechs Kindern: „Ich bin so unschuldig wie Gott im Himmel. Wenn ich nur ein bisschen von solch einer Sache wüsste, so wollte ich, dass mir Gott den Himmel versage. Oh du herzlieber Schatz, wie geschieht meinem Herz. Oh weh, oh weh meiner armen Waisen.“ Die beiden Nachkommen Lemps hätten nach der Lektüre mit den Tränen gekämpft.
Freie Hand für die Inquisition
Seit 1999 ist Sponsel Stadtarchivar in Nördlingen und wacht über die Verhörprotokolle. Das Stadtarchiv ist in einem gelben Eckhaus am Weinmarkt untergebracht. Der Ort spielte in der großen Nördlinger Hexenverfolgungswelle zwischen 1589 und 1598 eine große Rolle. In unmittelbarer Nähe des Platzes lebten besonders viele angebliche Hexen. Nachbarinnen denunzierten sich hier wohl gegenseitig, wenn sie den bohrenden Fragen schließlich nachgaben: „Wer war mit dir zusammen dort? Wer saß vorn auf dem Besen?“ Unter der Folter verdächtigte eine Frau die andere – vielleicht am ehesten die, mit der sie noch eine Rechnung offen hatte. So zog ein Hexenprozess den nächsten nach sich, folgte eine Verbrennung auf die andere. Die Protokollführer hatten viel zu tun in den neun Jahren. „Es war eigentlich nach Recht und Ordnung“, sagt Sponsel. „Nichts war schlimmer in einer Stadt wie Nördlingen, als gegen Gottes Ordnung zu verstoßen.“ Eine Ordnung, die eigentlich von den Menschen selbst aufgestellt worden sei. In der Zeit um 1600 zählte Nördlingen etwa 8800 Einwohner.
Damals ging die Angst um in der Reichsstadt. Zum einen davor, selbst der Hexerei bezichtigt zu werden. Zum anderen war die Furcht vor der Macht des Teufels und den angeblichen Hexen. Wegen Seuchen und Naturkatastrophen hatte sie sich im Spätmittelalter ins Unermessliche gesteigert. Papst Innozenz VIII. erließ 1484 die „Hexenbulle“ und gab damit der Inquisition freie Hand zur Verfolgung und Verurteilung vermeintlicher Hexen und Ketzer. Außerhalb der Stadtmauern Nördlingens liegt auf einer Anhöhe der Hexenfelsen. Kaum vorstellbar, was hier vor 400 Jahren geschah. Auf dem Felsen seien die angeblichen Hexen verbrannt worden, sagt die Nördlinger Stadtführerin Heidemarie Greiner. Lodernde Flammen, verzweifelte Schreie – ein sichtbares Zeichen sollte der Ort sein. Viele der angeklagten Frauen seien Heilerinnen oder Hebammen gewesen.
Unvorstellbare Qualen
Die Qualen der vermeintlichen Hexen sind unvorstellbar. Die Stadtführerin erzählt von Daumenschrauben, von Streckbänken und vom „spanischen Stiefel“, der nach innen mit Nägeln ausgestattet gewesen sei und den die Peiniger ihren Opfern um Schienbein und Wade gelegt hätten. Sie erzählt vom Aufziehen der Frauen am Strang – an den Armen hochgezogen und manchmal noch mit einem Stein an den Füßen beschwert, wurden sie auf- und abgeschnellt. Zwischen den Folterungen darbten die Angeklagten im Verlies auf fauligem Stroh vor sich hin. Sie bekamen Suppe, mit Glück ein Stück Brot, wie Greiner erzählt. Mehrere Frauen starben an den Folgen der Folter, so dass nur noch ihre Leichen auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden konnten. Besonders beeindruckend ist die Geschichte von Maria Holl, an die ein hölzerner Brunnen auf dem Weinmarkt erinnert. Die Frau wurde den Akten zufolge 62 Mal gefoltert – und doch widerstand sie und war nicht zu einem Geständnis zu bewegen. Kleine Zugeständnisse, um der Folter zu entgehen, widerrief sie später. Gott der Allmächtige werde sie bei der Wahrheit erhalten und sie nimmer schwach darin werden lassen, sagte Holl einem Akteneintrag zufolge am 11. Dezember 1593. Mangels eines Geständnisses war das Inquisitionsverfahren nach 334 Tagen und Nächten Kerkerhaft zu Ende – Holl wurde am 11. Oktober 1594 entlassen. „Es gibt keine Erklärung für diese Frau“, sagt Greiner. Mit Holl seien die Hexenprozesse in Nördlingen schleichend zu Ende gegangen.
Obwohl weitaus die meisten der Angeklagten Frauen waren, gab es auch einige der Hexerei bezichtigten Männer – zwischen 1589 und 1598 waren es in Nördlingen zwei. Nördlingen bildete mit seinen Hexenprozessen keine Ausnahme. Die Verfolgung erreichte von Südfrankreich ausgehend im 16. und frühen 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt – in katholischen wie in protestantischen Gebieten Deutschlands. In drei großen Wellen sollen hier rund 100 000 Menschen als angebliche Hexen in den Flammen der Scheiterhaufen gestorben sein, zehn Prozent davon Männer. Den letzten Hexenprozess auf deutschem Boden gab es 1775 in Kempten.