Da stehen also am 8. Januar 2014 Kripo-Beamte und die Spitze der Bayreuther Staatsanwaltschaft auf dem Friedhof im oberfränkischen Lichtenberg und starren auf ein Grab. Es ist das Grab einer 81-jährigen Frau. Die Ermittler haben es öffnen lassen, weil sie es für möglich halten, dass bei der Beerdigung im Mai 2001 der Leichnam der kleinen Peggy Knobloch mit in dieses Grab gelegt worden ist. Das ist aber nicht so, und nun blicken die Ermittler nicht nur auf einen Haufen Erde und Knochen, sondern vor allem auf die Trümmer ihrer Ermittlungsarbeit.
Dieses Bild vom Friedhof in Lichtenberg symbolisiert, wie verzweifelt die Kripo und die Staatsanwaltschaft waren. Ein neunjähriges Mädchen, seit dem 7. Mai 2001 verschwunden, aber keine Leiche. Ein Gewaltverbrechen an einem Kind, aber kein Täter. Dann ein Verdächtiger, der sogar wegen Mordes an Peggy verurteilt wird, aber zu Unrecht, wie sich Jahre später herausstellt. Es gab keinen Ermittlungsansatz mehr im Fall Peggy, einem der mysteriösesten Verbrechen in Deutschland.
Doch jetzt ist alles anders. Am Dienstag bestätigt ein DNA-Abgleich, dass die sterblichen Überreste von Peggy gefunden sind. Ein Pilzsammler hatte Knochen entdeckt – offenbar Peggys Schädel und Knochenteile des Oberkörpers. Außerdem „Gegenstände“, die die Ermittler eindeutig Peggy zuordnen, unter anderem eine Armbanduhr. Jetzt haben die Ermittler wieder Hoffnung. Eine 30 Beamte starke Sonderkommission wird eingerichtet.
Was verraten die Fundstücke?
Aber: Worauf stützen sich diese Hoffnungen? Wie stehen die Chancen, nach so langer Zeit den Täter zu finden? Und: Erschweren die Fehler der Vergangenheit die Aufklärung? Nicht umsonst hat der Fall Peggy auch als als bayerischer Polizei-Skandal zu gelten.
Große Hoffnungen setzen die Ermittler in die „anderen Fundstücke“. Sie können Träger für Spuren sein, zum Beispiel Haare oder DNA-Spuren, die zum Täter führen. Das ist nach 15 Jahren Liegezeit der Leiche nicht einfach. Doch jetzt wird jeder Quadratzentimeter im Wald untersucht. Nichts soll mehr übersehen werden. Dieses Mal sollen keine Fehler mehr gemacht werden. Denn im Fall Peggy wurde viel falsch gemacht.
Das neun Jahre alte Mädchen lebte 2001 mit seiner Mutter Susanne, einer jüngeren Halbschwester und einem türkischen Stiefvater in Lichtenberg. Peggy war ein „Schlüsselkind“, oft war niemand da, wenn sie von der Schule heimkam. Am 7. Mai 2001 aber kam sie nicht heim. Hat ein Menschenhändler sie nach Tschechien entführt? Ein Sexualverbrecher verschleppt? Ist sie doch ins Haus gegangen und dort getötet worden? Oder hat die Verwandtschaft des Stiefvaters sie in die Türkei gebracht? All diese Theorien werden diskutiert. Beweise? Keine.
In den vergangenen 15 Jahren haben drei Sonderkommissionen der Polizei versucht, den Fall zu klären. Die erste Soko hielt es für plausibel, dass der Täter aus dem familiären Umfeld des Mädchens kommt. Aber sie fand keinen.
Innenminister Günther Beckstein ließ eine neue Sonderkommission einsetzen. Soko-Chef wurde der frühere Würzburger Kriminalist Wolfgang Geier. Tatsächlich kam nun Fahrt in die Sache. Die Soko Peggy II versteifte sich auf den geistig behinderten Ulvi. Die Eltern des jungen Mannes betrieben die Sportgaststätte in Peggys Nachbarschaft. Ulvi hatte sich vor Kindern entblößt, er saß in der Psychiatrie. Die Kripo warb den Betrüger Peter H. als V-Mann an. Der saß ebenfalls in der Psychiatrie. Er sollte Ulvi aushorchen. H. lieferte: Er berichtete der Soko, Ulvi habe ihm die Tat gestanden.
Der kräftige junge Mann mit dem Verstand eines Achtjährigen wurde 40 Mal verhört. Dann gestand er. Zumindest ist dies in einem Gedächtnisprotokoll der Polizei so festgehalten. Tonbandaufzeichnungen gibt es nur teilweise. Ein Anwalt war auch nicht immer anwesend. Ulvi widerrief das Geständnis. Angeklagt wurde er dennoch. Und verurteilt. Zu lebenslanger Haft wegen Mordes. Das war 2004.
Freispruch für Ulvi
Viele Jahre später kam heraus, dass Ulvis Geständnis auffällig einer Tathergangshypothese der Soko ähnelte. Mit anderen Worten: Ulvi hatte den Ermittlern genau das erzählt, was sie ihm vorher suggeriert hatten. In einem neuen Prozess 2014 wurde er freigesprochen. Nach diesem Skandal setzte die Staatsanwaltschaft Bayreuth eine neue Ermittlungsgruppe ein, praktisch die Soko Peggy III. Plötzlich war wieder alles anders. Die Kripoleute kamen einem seltsamen Umfeld rund um Peggys Wohnhaus in Lichtenberg auf die Spur. In einer Wirtschaft soll sich eine Gruppe von Kinderporno-Freunden getroffen haben. Gegenüber wohnte ein Mann, der wegen sexuellen Missbrauchs von Mädchen verurteilt worden war. Dort ließen die Ermittler den Vorgarten ausbaggern, um Peggys Leiche zu finden. Ohne Erfolg.
Unter Verdacht geriet auch ein junger Mann aus Halle an der Saale - der Neffe eines Mannes, der in Peggys Haus lebte. Der Pädophile, damals 17, hatte engen Kontakt zu Peggy, auch sexuellen, wie er zugab. Er trug ein Amulett von ihr um den Hals. Auf seinem Computer befand sich kinderpornografisches Material. Wegen des sexuellen Missbrauchs seiner kleinen Tochter und einer Freundin von Peggy wurde der junge Mann zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Den Mord an Peggy aber bestritt er vehement. Und schließlich nahm die Kripo auch noch den Onkel des jungen Mannes ins Visier. Auch er hatte Kinderpornos auf seinem Rechner.
Doch all diese Ansätze führten nicht zum Erfolg. Die Ermittlungsverfahren wurden eingestellt. Das heißt natürlich nicht, dass sich in der neuen Situation nicht wieder Verdachtsmomente ergeben können. Es ist völlig klar, dass die bisherigen Verdächtigen alle noch einmal überprüft werden, sagt ein langjähriger Ermittler. Allein Ulvi scheint im Moment über jeden Verdacht erhaben. Der geistig behinderte Mann, der heute in einer betreuten Einrichtung lebt, hatte nie einen Führerschein, er ist nicht in der Lage, ein Auto zu steuern. Wie hätte er Peggys Leiche in den Wald bringen sollen?
Und wieder eine Soko
Jetzt hat also Soko Peggy IV. Und schon sieht sich die Polizei wieder mit einem Vorwurf konfrontiert: Warum wurde Peggys Leiche nicht früher gefunden, obwohl sie nur 15 Kilometer entfernt vom Ort ihres Verschwindens lag? Die Antwort darauf ist einfacher als vieles andere in diesem Fall. Ein Radius von mindestens 15 Kilometern rund um Lichtenberg bedeutet, die Ermittler hätten damals auf mehr als 706 Quadratkilometern jeden Stein umdrehen müssen. Das ist eine Fläche so groß wie 99.000 Fußballfelder oder mehr als ein Viertel des Saarlands. Und das ist in der Praxis nun wirklich nicht möglich.
DNA-Abgleich
Die DNA-Analyse ist für Ermittler bei der Aufklärung von Gewaltverbrechen eines der modernsten und erfolgreichsten Instrumente. Für den sogenannten genetischen Fingerabdruck eines Menschen werden Teile der menschlichen Erbsubstanz Desoxyribonukleinsäure (DNA) untersucht. Die Experten können diesen individuellen Abdruck auch Jahrzehnte nach der Tat aus winzigen Spuren von Blut, Sperma, Schuppen, Knochen oder Haaren erstellen und abgleichen. Seit 1998 arbeiten die deutschen Behörden mit einer zentralen DNA-Analyse-Datei, die beim Bundeskriminalamt eingerichtet wurde.
Sie enthält mehr als eine Million Datensätze, wodurch inzwischen mindestens jede dritte Spur dem entsprechenden „Spurenleger“ zugeordnet werden kann. Mehr als 170.000 Treffer sind dem BKA inzwischen gelungen. dpa