
Der Rechtsanwalt Michael Siegel. Ein Bild zeigt den jüdischen Juristen 1922 in Lederhose und Janker mit seinem kleinen blond gelockten Sohn Peter. Zehn Jahre später, am 10. März 1933, wird Siegel gedemütigt und barfuß durch München getrieben mit einem Schild um den Hals: „Ich werde mich nie wieder bei der Polizei beschweren.“ Die eindrückliche Fotosequenz ist zu sehen in dem neuen NS-Dokumentationszentrum in München, das am Donnerstag – dem 70. Jahrestag der Befreiung der Stadt durch die US-Armee – eröffnet wird.
Siegel war „ein vollkommen integrierter jüdischer Bürger, der an diesem 10. März ausgegrenzt worden ist. Das ist unser Thema“, sagt Gründungsdirektor Winfried Nerdinger. In 33 Leitbildern zeigt die Ausstellung den unrühmlichen Werdegang Münchens zur Hauptstadt der Bewegung, benennt aktuelle neonazistische Umtriebe und Verbrechen wie die Morde des NSU oder das von einem Rechtsextremisten begangene Oktoberfestattentat von 1980. 70 Jahre hat München gebraucht für sein Dokumentationszentrum. „Es ist Zeit ins Land gegangen, mehr Zeit als andernorts“, gibt Bayerns Wissenschaftsminister Ludwig Spaenle (CSU) zu. Es sei aber am Jahrestag der Befreiung „die rechte Zeit, dass dieser Ort Gestalt angenommen hat“.
Der weiße Würfel aus Beton steht genau an der Stelle des früheren Braunen Hauses, der früheren NSDAP-Parteizentrale. Das klar strukturierte Gebäude hebt sich hell gegen die Gebäude ab, in denen Hitler seine Macht konzentrierte: südlich der Verwaltungsbau, nördlich der frühere Führerbau, heute Sitz der Musikhochschule. An der Rückseite klaffen noch immer tiefe Löcher von Splittern der Bombenangriffe.
Direkt davor, am Königsplatz, ließ der Diktator sich in Aufmärschen feiern. Das NS-Dokuzentrum stehe bewusst an einem „Täterort“, hat Nerdinger stets gesagt. „Dieser Teil unserer Geschichte ist niemals abschlossen, weil wir ihn als Auftrag begreifen müssen“, sagt Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). „Weil das, was einmal geschehen ist, wieder geschehen könnte, wenn wir uns nicht aktiv für ein solidarisches Miteinander einsetzen.“ Der Anspruch: kein Museum. Gerade das nicht. Sondern ein Lern- und Erinnerungsort. Gerade keine Originale aus der Nazizeit wie Uniformen – um sie nicht museal aufzuwerten.
Aber Bilder. Eine Erschießungsszene: Angehörige des Münchner Reserve-Polizeibataillons exekutieren Geiseln in Slowenien, leblose Körper, Särge. Oder: Eine jubelnde Menschenmenge auf dem Königsplatz, Tausende Arme zum Hitlergruß erhoben vor den Propyläen – die direkt vor dem Dokumentationszentrum durch die Fenster zu sehen sind.
In der Bibliothek sind unter anderem Exemplare der Buchtitel ausgestellt, die ein paar Meter weiter am Königsplatz am 10. Mai 1933 verbrannt worden waren. An multimedialen, interaktiven Tischen können Besucher die Nazi-Ideologie in ihre verschiedenen Aspekte zerlegen: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus – und sie wieder zusammensetzen zu nun besser verständlichen ideologischen Aussagen.
Sie können das Netzwerk der NS-Funktionäre über die Jahre betrachten. Oder in Zeitraffer die Vertreibung der Juden aus München und die Deportation in die verschiedenen Lager verfolgen. Gut zehn Jahre sind in zwei Minuten zusammengefasst – die hellen Punkte, die Wohnsitze der Juden in der Stadt anzeigen, sind am Ende ganz verschwunden.
Erinnern, nicht Vergessen – es geht in der Ausstellung auch um den langen Weg dahin, über den weiten Umweg der Verdrängung. Heinrich Eymer etwa: Der Gynäkologe und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München war beteiligt an dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ – also zur Zwangssterilisation. Doch 1948 wurde er erneut auf seinen früheren Lehrstuhl berufen, er war Anfang der 1950er Jahre Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und erhielt 1953 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik.