
Am Ortseingang grüßt ein Schild die Besucher. „Willkommen im Schnee!“ steht auf dem Plakat mit dem Skifahrer im roten Anorak, der zwischen tief verschneiten Bäumen den Hang hinunterwedelt. Den Willkommensgruß kann man gerade noch lesen, das Schild versinkt zur Hälfte in einem riesigen Schneeberg.
In Balderschwang ist Winter. So, wie man ihn von früher kennt. Von alten Postkarten. Oder von Puzzles mit 1000 Teilen, die das kitschig-schöne Bayern abbilden. Der Schnee am Straßenrand ist höher als das Auto, wenn man Deutschlands höchste Passstraße, den Riedbergpass, hinaufkurvt. Dort, auf 1044 Metern, strahlt die Sonne vom blauen Himmel. Vor den Häusern stehen Schneetürme, die eineinhalb Mal so hoch sind wie man selbst. Glitzernde Eiszapfen hängen in Armlänge von den Dachrinnen. Und die übrig gebliebene Telefonzelle trägt eine dicke weiße Haube.
Ja, so idyllisch ist es in Balderschwang in diesen Tagen. In diesem „kleinen gallischen Dorf“ im Oberallgäu, wie Ortspfarrer Richard Kocher es nennt. Weil die Balderschwanger sich hingebungsvoll streiten können, wie er erzählt. Aber in der Not auch unglaublich zusammenhalten. So wie am 14. Januar, als nach dem tagelangen, heftigen Schneefall morgens gegen fünf Uhr eine Lawine in das Wellnesshotel Hubertus krachte.
Gut eine Stunde hat es gedauert, bis Hilfskräfte aus den umliegenden Orten die gesperrte Zufahrtsstraße so weit von umgefallenen Bäumen und den Schneemassen befreit hatten, damit sie mit den Einsatzfahrzeugen durchkamen. „Bis dahin waren wir auf uns allein gestellt“, sagt Bürgermeister Konrad Kienle. Eine Situation, die der kleine, abgelegene Ort kennt – und die ihm immer wieder passieren kann. Kienle ist voll des Lobes für die Ehrenamtlichen in Balderschwang, „da hat jeder funktioniert“. Muss auch so sein, denn: „Nach der Lawine ist vor der Lawine.“
Es wurde offenbar vieles richtig gemacht, vieles richtig entschieden. Die achtköpfige Lawinenkommission hat am Vortag des Unglücks wegen zweier „Schwachschichten“ in der Schneedecke am Hang über dem Hotel vor einem drohenden Schneebrett gewarnt. „Das war wie eine Rutschbahn mit Kugellager“, sagt der Obmann der Lawinenkommission, Walter Kienle. Sein Cousin, der Bürgermeister, ordnete die Sperrung des Wellnessbereichs im Hotel Hubertus an.
Der sieht jetzt aus wie nach einem Erdbeben. Arbeiter schaffen mit Schubkarren die letzten Reste der etwa 20 000 Kubikmeter Schnee, die den Hang heruntergedonnert sind, aus dem ehemaligen Ruheraum. Nur die Birkenstämme, die die Liegen voneinander trennten, stehen noch. Dort, wo die Fenster waren, die durch den Druck der Schneelast geborsten sind, schließen jetzt Spanplatten die klaffenden Löcher. Der moderne Holzanbau mit seinen zwölf Behandlungsräumen, der erst 2010 errichtet wurde und den die volle Wucht der Lawine getroffen hat, ist nur noch ein Gerippe. In einem der Räume parkt jetzt ein kleiner, roter Bagger, der in den vergangenen Tagen das Gebäude aus dem Schnee ausgegraben hat. Die Massageliegen parken dafür in der Tiefgarage.
Hotelier Karl Traubel weiß inzwischen, dass der Wellnessbereich nicht zu retten ist, er muss abgerissen werden. Das Hotel ist geschlossen, ein paar der 90 Angestellten sind noch da. Sie räumen auf, putzen, sortieren, sagen den gebuchten Urlaubern ab. Fest steht, sagt Traubel, dass er weitermacht. Dass er das Hotel wieder aufbaut. Wie, weiß er noch nicht. Wie lange es dauern wird, auch nicht. „Ich weiß nur, dass wir uns gegen die Gefahren der Natur wappen müssen, denn wir sind hier ein Teil der Natur.“ Bei allem materiellen Verlust, sagt der 64-Jährige: „Das Wichtigste ist für mich, dass niemand zu Schaden gekommen ist.“ Das war knapp. Denn das Schneebrett hat nicht nur den Pool und den Wellness-Anbau verschüttet. Ausläufer der Lawine sind auch gegen das Gebäude mit den gut 60 Zimmern gedonnert. Bis in den dritten Stock hinauf reichte der Schnee – und in drei Zimmern hinein bis kurz vor die Betten, in denen die Urlauber schliefen.
Die Lawine brachte die kleinste und zugleich höchstgelegene, selbstständige Gemeinde Bayerns an jenem Montag, an dem vielerorts der Schneefall nicht mehr aufhören wollte, in die Nachrichten. Von Schneechaos war allenthalben die Rede, von einer Katastrophe. „Es gibt für dieses Schneechaos ein schönes altes Wort“, sagt Skilehrer Walter Kienle: „Das heißt Winter.“
Überhaupt ist das der meistgehörte Satz in Balderschwang, wenn man nach der Lawine fragt. „Es ist halt Winter“, sagen die Einheimischen dann – und zucken die Schultern. So geht man in dem Schneeort, der den Spitznamen Bayerisch Sibirien trägt, mit den Schneemassen um: gelassen, entspannt, professionell. Man ist es gewohnt, dass es im Winter schneit, ziemlich viel schneit. Dass man die Dächer abschaufeln muss, wenn die Last zu schwer wird. Dass man auch mal einen Tag von der Außenwelt abgeschnitten ist, weil der Riedbergpass und die Zufahrtsstraße aus Richtung Hittisau gesperrt werden, wenn ein Schneehang abzurutschen droht. Und dass dann besorgte Urlauber anrufen und fragen, ob es noch genügend zu essen und zu trinken gibt in Balderschwang, wo alle Häuser den Straßennamen „Dorf“ haben – und einfach durchnummeriert sind. Dabei hat es im Moment noch nicht einmal besonders viel Schnee im Schneeloch Balderschwang, dem Ort mit der höchsten Niederschlagsmenge Deutschlands, der gleichzeitig mit die meisten Sonnentage hat. Pfarrer Richard Kocher hat seine eigene Messmethode. Er geht auf den Balkon hinaus, zeigt auf das Dach des Schullandheims St. Franziskus. „Wenn man den gemauerten Schornstein auf dem Dach nicht mehr sieht“, sagt er, „haben wir viel Schnee.“ Wenn dann auch noch das Rohr verschwunden ist, das aus dem Kamin ragt, „haben wir richtig viel Schnee“. Im Moment sind Rohr und Schornstein zu sehen.
Trotzdem sagt Pfarrer Kocher: „Wir sind hier bisher immer verschont geblieben. Aber jetzt haben wir einen Streifschuss abbekommen.“ Seit 24 Jahren kümmert er sich als Ortspfarrer um die 220 Katholiken in dem Allgäuer Bergdorf und ist zugleich Programmdirektor des katholischen Radiosenders Radio Horeb, der seit 1996 aus Balderschwang sendet. „Die Wetterextreme nehmen zu“, sagt der 59-Jährige, das sei der Klimawandel. Im Dezember habe im 20 Kilometer entfernten Lingenau extremer Wassermangel geherrscht, „das hat es noch nie gegeben im Tal.“ Und jetzt die Lawine, die auch den Pfarrer aus dem Schlaf gerissen hat. „Ich dachte, der Schnee vom Kirchendach ist abgerutscht.“ Kocher nennt es „eine Vorsehung“, dass bei dem Lawinenabgang niemand zu Schaden gekommen ist.
Der Pfarrer holt die alte Orts-Chronik hervor, die im Altarstein der Kirche gefunden worden ist. „Ein schneereicher Winter liegt hinter uns“, hat der Chronist 1970 notiert. „Nach Balderschwang kommt der Frühling zuletzt“, ist im Jahr 1958 festgehalten. Und dann der Eintrag aus dem Lawinen-Winter 1954, wo es vor allem in Vorarlberg hunderte Lawinenabgänge und dutzende Tote gab. Konrad Kienle, der Großvater des heutigen Bürgermeisters, hat im Allgäuer Anzeigeblatt unter der Überschrift „Glück im Unglück in Balderschwang“ von seinen Erlebnissen berichtet.
Damals rauscht die Lawine nur 100, vielleicht 200 Meter neben der von letzter Woche ins Dorf. Sie trifft das alte hölzerne Schulhaus, verschiebt das Gebäude um vier Meter und drückt die Wände des Büros aneinander, das Konrad Kienle kurz zuvor verlassen hat. Die Oma wird im ersten Stock aus dem Stuhl geschleudert, sie wird – ebenso wie die zwei kleinen Kinder und der Rest der Familie – nur leicht verletzt. In der Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite bersten die bleigefassten Scheiben, sie ist bis unters Dach mit Schnee und Schutt gefüllt.
Diese Familiengeschichte hat Bürgermeister Kienle zeit seines Lebens begleitet. Als Bub schon, als er mit den anderen Dorfjungs die neue Lawinenverbauung, die nach dem Unglück 1954 errichtet worden ist, als Klettergerüst nutzte. „Jeder von uns hatte mit den massiven Holzböcken eine eigene Burg“, sagt der 58-Jährige. Später hat er erlebt, wie der Schutzwald über Balderschwang angepflanzt wurde. Jene Bäume, „die unser Dorf schützen“, wie er sagt. Die etwa 330 Balderschwanger – gut 200 Einheimische und über 100 Hotelbedienstete – und die rund 1300 Urlauber, die hier Platz haben.
Im Moment sind es weniger. „Es ist die ruhigste Woche im Jahr“, sagt Luggi Endrös, der als junger Skilehrer vor 44 Jahren mit fünf Paar Skiern einen Skiverleih eröffnet hat. Die Pisten- und Loipenverhältnisse sind hervorragend, der riesige Parkplatz für die Skifahrer, der normalerweise aus allen Nähten platzt, ist fast leer. Im Hotel Schwabenhof hat eine Schule aus Solingen das Skilager abgesagt. 62 Leute, die zwölf Tage bleiben wollten. Die Eltern hatten Angst um ihre Kinder. Angst vor Lawinen, vor dem Schneechaos. Vor dem Winter in Balderschwang.
Und auch wenn der Wetterbericht wieder Schnee meldet – der Balderschwanger sagt: „Dann schneit es halt.“
Warum Balderschwang Bayerisch Sibirien heißt
Das kleine Allgäuer Bergdorf Balderschwang, 16 Kilometer von Fischen und nur drei Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, war vor rund 300 Jahren nur im Sommer besiedelt, wenn Alpbauern aus der Bregenzer Gegend – wie Halbnomaden – die Berghänge um das Dorf bewirtschafteten. Das ist heute noch so: Acht Bauernfamilien aus dem benachbarten Österreich leben und arbeiten im Sommer auf den Alpen von Balderschwang, wo die Kinder aufwachsen wie einst Heidi.
Balderschwang trägt den Spitznamen Bayerisch Sibirien. Das liegt einerseits daran, dass es einer der kältesten und schneereichsten Orte Bayerns ist. Es liegt aber auch daran, dass bis zum Bau des Riedbergpasses 1961 das Dorf nur über einen Feldweg zu erreichen war. Lehrer, Zöllner, Gendarmen oder Pfarrer, die etwas ausgefressen hatten, wurden damals nach Balderschwang versetzt. So soll es Jahre gegeben haben, in denen der Dorfpfarrer sechs oder sieben Mal wechselte. ak

