
Es ist eines der umstrittensten Getränke, die sich je ein Brennerhirn ausgedacht hat. Für die einen ein Brechmittel, für die anderen die Erfüllung aller Schnapsträume: Absinth.
Von den Bohemiens weiß man, dass sie ihm verfallen waren. Pablo Picassos „blaue Periode“ soll von Absinth geprägt gewesen sein, ebenso die „gelbe“ von Vincent van Gogh, der sich im Absinth-Rausch ein Ohr abgeschnitten haben soll. Dass Henri Toulouse-Lautrec sich wohl mit der „Grünen Fee“ totgesoffen hat, weiß man auch. Mythen um den Trank, der so bitter ist, dass Campari dagegen wie Zuckerwasser schmeckt, gibt es viele. Und noch mehr herumgeisternde Gerüchte, wie jenes, dass er blind macht. Das tut er sicher nicht.
Sucht man in Mainfranken nach Absinth, wird man in jedem größeren Spirituosen-Laden fündig. Sucht man allerdings nach Absinth aus heimischer Produktion, wird es schwierig. Es gibt wohl nur einen unterfränkischen Brenner, der die Wermutspirituose in seiner reinen Form destilliert hat: Arno Josef Dirker im Kahlgrund bei Mömbris. Auch Brennmeister Dirker ist kein ausgesprochener Absinth-Spezialist – noch nicht jedenfalls.
Der Destillateur, der sonst aus Mirabellen, Wildkirschen und Äpfeln Geistvolles macht, kam zur „Grünen Fee“ durch Zufall. Sein Sohn wünschte sich zum 18. Geburtstag etwas Besonderes, Absinth sollte es sein. Und so sammelte der Vater kiloweise „Wermede“, wie das Wermutkraut im Kahlgrund heißt, und legte am Brennkessel los. Sehr zur Freude seines Sohnes. Der Großteil des Absinths landete vor acht Jahren dann aber in Glasballons in Arno Dirkers Keller. Und wurde vergessen.
Der gelernte Zimmermann, der nach einer übergroßen Zwetschgenernte auf der Familienplantage in den 80er Jahren zum Edelbrand kam, 1987 seinen ersten eigenen Wildbeerenbrand herstellte und fünf Jahre später seine eigene Anlage erwarb, wusste eigentlich gar nicht, was er da gelagert hatte. Die Zeit verging – und Absinth war plötzlich Trend. Die Spirituose hatte sich zu einem kulturigen Szene-Drink entwickelt, plötzlich gab es eine Nachfrage nach der grünen Fee. Und Dirker, der Mann mit der sensiblen Nase, der schon aus Eibe und wolligem Schneeball, aus Knoblauch und Koriander Schnaps brannte, erinnerte sich im Sommer an das Wermutkraut.
So schickte Tüftler Arno Dirker in diesem Herbst seinen Achtjährigen an das Untersuchungsinstitut Fresenius nach Freiburg, um – den Vorschriften entsprechend – in der chemischen Analyse den Thujon-Gehalt des Wermut-Schnapses feststellen zu lassen. Würde der im gesetzlichen Rahmen liegen?
Doch was ist diese „grüne Fee“ eigentlich und wo kommt sie her? Absinth ist ein hochprozentiges, alkoholisches, leicht grünliches Getränk, zu dessen Herstellung hauptsächlich ein Extrakt aus dem extrem bitteren Wermutkraut verwendet wird. Die Essenz des Krauts, auch Bitterer Beifuß genannt, enthält 40 bis 70 Prozent Thujon, ein Nervengift, das wohl der Grund dafür ist, dass erwähnte Bohemiens beim Anblick eines Gläschens Absinth in Verzückung gerieten. Wegen seines bitteren Geschmacks wird Absinth mit Zucker vermischt – und natürlich mit reichlich Wasser, was zur opaleszierenden Weißfärbung führt, dem sogenannten Louche-Effekt. Einfach ausgedrückt: Der Absinth wird milchig.
Zwei Schwestern namens Henriod aus dem Schweizer Jura galten lange als die Erfinderinnen der „Grünen Fee“. Es ist aber mittlerweile belegt, dass bereits die alten Griechen sehr wohl die Freuden genossen, die der Hauptinhaltsstoff der Wermutpflanze bereitet. Die Pflanze war nicht umsonst Artemis geweiht, der Göttin der Jagd und der Fruchtbarkeit. Das Kraut hatte große Bedeutung in der gynäkologischen Volksmedizin, aber auch als hochwirksames Aphrodisiakum.
Klar ist, dass erst mit der Wasserdampfdestillation hochkonzentrierte Essenzen gewonnen werden konnten. Die Griechen hatten also allenfalls in Alkohol gelöste oder in Wasser „ausgekochte“, weniger konzentrierte Essenzen. Der Thujon-Gehalt ihres Wermutschnapses dürfte minimal gewesen sein im Gegensatz zu dem Getränk, das die Kunstwelt zu Zeiten eines Lautrec schlürfte.
Genügend Forscher jedoch messen der Höhe des Thujon-Gehalts keinerlei Bedeutung bei: Dirk Lachenmeier zum Beispiel, Wissenschaftler am Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt in Karlsruhe, meint, lediglich die Kombination aus Thujon (gleich welcher Konzentration) mit Hochprozentigem erzeuge die so beliebte Wirkung.
Unbestritten ist, dass die Molekularstruktur von Thujon und dem Wirkstoff der Cannabis-Pflanze Ähnlichkeiten aufweist. Tatsache ist auch, dass Oscar Wilde die Absinth-Wirkung so beschrieb: „Das erste Stadium ist wie normales Trinken, im zweiten fängt man an, ungeheuerliche grausame Dinge zu sehen, aber wenn man es schafft, nicht aufzugeben, kommt man in das dritte Stadium, in dem man Dinge sieht, die man sehen möchte, wundervolle, sonderbare Dinge.“
Aber ist es nicht ein bekanntes Phänomen, so lange zu trinken, bis man wunderbare Dinge sieht – ob mit Thujon oder nicht? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das Getränk jedenfalls im Ruf, gesundheitliche Schäden hervorzurufen. Bereits 1910 wurde Absinth in der Schweiz verboten. Dem folgten nach und nach fast alle Länder, 1914 zum Beispiel Frankreich und 1923 dann auch Deutschland. Man wolle die Bürger vor den gefährlichen Nebenwirkungen des Absinth beschützen, hieß es.
Heute ist bekannt, dass das Ganze ein abgekartetes „Wirtschaftspolitikum“ war. Anfang des 20. Jahrhunderts stiegen nämlich die Preise für Wein ins Gigantische, während Absinth immer günstiger wurde. Der Weinindustrie war der „billige Fusel“ ein Dorn im Auge. Da kam der Wein-Lobby der Lausanner Arbeiter Jean Lanfray gerade recht, der angeblich im Absinth-Rausch seine ganze Familie getötet haben soll. „Schaut her“, hieß es damals, „das passiert, wenn man dieses gefährliche Getränk nicht verbietet.“
Nicht erwähnt wurde, dass Jean Lanfrey, der fortan nur noch „Absinthmörder“ hieß, offenbar notorischer Weintrinker war, der täglich bis zu fünf Liter Rotwein in sich hineingegossen hatte und in der Tatnacht seine Sauferei mit zwei Gläschen Absinth gekrönt hatte. „Rotwein-Mörder“ hätte er genannt werden müssen.
Der gewiefte Absintheur musste allerdings zu keiner Zeit auf sein Lieblingsgetränk mit dem verruchten Image verzichten. Spanien, Portugal und die damalige Tschechoslowakei blieben frei vom Absinthverbot. Und auch in der Schweiz wurden alleine im Val-de-Travers jährlich mindestens 15 000 Liter Absinth schwarzgebrannt, die „Grüne Fee“ lebte weiter. Die Europäische Union hob das Absinth-Verbot schließlich 1981 wieder auf. 1991 folgte Deutschland, reglementierte den Thujongehalt allerdings. Die Zulässigkeit von Thujon wurde auf 5 mg/kg Getränk mit einem Alkoholgehalt von bis zu 25 Volumenprozent festgelegt. Bei Getränken mit mehr als 25 Prozent Alkohol dürfen zehn Milligramm Thujon enthalten sein, bei Bitterspirituosen sogar 35 Milligramm pro Kilo.
Zurück zu Arno Dirkers Schatzkeller nach Mömbris, zur Spirituose, die aus der Geburtstagslaune entstand. Der 60-prozentige Absinth musste nicht lange auf die Untersuchungsergebnisse des Instituts Fresenius warten, Anfang Oktober kam der Beleg per Post: 27,9 Milligramm Thujon pro Kilo stecken im Wermutschnaps aus dem Kahlgrund. Also weniger als der Grenzwert erlaubt. Jetzt gibt es in der Edelbrennerei den ersten unterfränkischen Absinth zu kaufen.
Abzuraten ist übrigens jedem, der glaubt, mit Wermutöl aus der Apotheke in Eigenregie Getränke oder Speisen mit einer Thujon-Bombe aufbrezeln zu können. Eine „psychoaktive Wirkung“ bleibt definitiv aus. Und statt der „Grünen Fee“ lernt man allenfalls eine Krankenschwester kennen.