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KEMPTEN
Der Tag, an dem die Welt zusammenbrach
Glücklich vereint: Vor fünf Jahren brach in Haiti das Haus über Nancy Louis (links) zusammen. Damals war sie 27, ihre Mutter Venita Zillner bangte in Kempten um sie. In einer deutschlandweit einzigartigen Rettungsaktion wurde Nancy aus dem Katastrophengebiet ausgeflogen. Heute lebt sie im Allgäu und ist selbst Mutter. Aliyah ist drei Jahre alt.
Foto: Ralf Wienert | Glücklich vereint: Vor fünf Jahren brach in Haiti das Haus über Nancy Louis (links) zusammen. Damals war sie 27, ihre Mutter Venita Zillner bangte in Kempten um sie.
reda
 |  aktualisiert: 12.01.2015 20:13 Uhr

Das Haus bricht an einem Dienstag über Nancy Louis zusammen und mit ihm die Welt, die sie bis dahin kannte. Es ist kurz vor fünf, die Erde bebt und als es vorbei ist, steht kein Stein mehr auf dem anderen in Haiti, dem bettelarmen Karibikstaat, ihrer Heimat. Wohnungen, Geschäfte, Slums, Krankenhäuser, Straßen, die Kathedrale der Hauptstadt Port-au-Prince: Zerborsten, zerbröselt, die Autos sind durch die Luft geflogen. Mehr als 220 000 Menschen sind tot, über 300 000 verletzt, 1,5 Millionen Menschen werden obdachlos.

Nancy liegt eingeklemmt unter Mauerteilen, schwer verletzt, und ruft um Hilfe, ihre Großmutter ist tot, niemand kommt. Die anderen retten gerade das eigene Leben. Fast 8000 Kilometer entfernt, in Kempten, starrt ihre Mutter Venita Zillner auf den Fernseher, der Sprecher presst eine Jahrhundertkatastrophe in Nachrichtensätze. 00509 . . . Venita wählt die 14 Ziffern von Nancys Handynummer, sie weint und kommt nicht durch. Dies ist die Geschichte, wie ihre Tochter, heute 32, das Erdbeben überlebte, gerettet wurde und nach langem Ringen ins Allgäu kam.

Haiti. Das Land teilt sich eine Insel mit der Dominikanischen Republik, doch in Haiti ist der Pauschaltourismus nie angekommen. Es gibt keine funktionierende Infrastruktur, die Slums erstrecken sich über weite Teile des Landes. Haiti ist ein instabiler Staat, in dem eine korrupte politische Klasse zusieht, wenn Seuchen grassieren, etwa die Cholera. In den Armenvierteln plündern die, die gar nichts haben, bei denen, die zumindest etwas besitzen. Wer in Haitis Slums wohnt, bleibt dort meist auf Lebenszeit. Manchmal aber findet man jemanden zum Heiraten. Dann kommt man raus.

So wie Nancys Mutter Venita. Als sie nach Deutschland heiratet, bleibt Nancy in der Karibik. Dennoch kommt es Venita vor, als habe sie ein Stück vom Paradies ergattert, Hauptgewinn. Heute liegt der Rest dieses Gedankens im obersten Stock eines Altbaus am Kemptener Stadtrand, Venita ist längst geschieden.

Eine weiße Eingangstür öffnet den Blick auf das Treppenhaus mit einem schmuddeligen Linoleumboden und Holzfurnier an den Wänden. Es riecht alt und ebenso fühlen sich die Stufen unter den Füßen an, schief und ausgetreten. Venitas Wohnung aber ist sauber und aufgeräumt, sie verdient ihr Geld mit Putzen. Rechts zweigt vom schmalen Flur die Küche ab, leichter Zigarettengeruch. Mittendrin: Venita. Und ihre Tochter Nancy. Ein Mädchen klettert auf den Küchentisch und zieht unter dem Protest der beiden das grüne Tischtuch herunter. Aliyah ist drei und kommt bald in den Kindergarten, Mittagschlaf mag sie nicht besonders und Fremde – naja.

Es ist Nancys Tochter, in Deutschland geboren und Venitas Enkeltochter – aber sie zieht nur die Augenbrauen hoch bei dieser Feststellung: „Da bin ich lieber der Papa.“ Sie lacht und das lässt keinen Zweifel aufkommen: Diese Wohnung gehört den Frauen Haitis, geschieden oder getrennt, jedenfalls alleinerziehend. Und stolz darauf, dass sie es trotzdem hinkriegen.

Schlimme Erinnerungen

Die Tür geht auf und nun ist Helena da, Venitas jüngere Schwester, 39 ist sie und zweifache Mutter. Auch sie hat vor Jahren nach Deutschland geheiratet, lebt ein Stockwerk tiefer. In der 65 000-Einwohner-Stadt Kempten gibt es nur diese Haitianer, die Frauen und ihre Kinder. Zu siebt sind sie.

Also, wie war das nochmal, damals? Aliyah zappelt auf dem Tisch, Venita hält einen Augenblick inne. „Schlimm“, sagt sie dann, ja schlimm war das. Von der Küche aus sieht man in das Zimmer, in dem sie vor fünf Jahren ruhelos auf und ab ging und immer wieder Nancys Telefonnummer wählte. Der Raum gehört heute Nancy und Aliyah, am großen bogenförmigen Fenster steht das Gitterbett, es gibt Puppen und ein paar Spielsachen. Nancy hat bunte Ornamente auf die Wände gemalt. Da war sie gerade schwanger.

„Ich war so traurig“, fährt Venita fort. Zehn Tage dauert es, bis sie Nancy ans Telefon bekommt, um 6 Uhr morgens deutscher Zeit. Nancys Handy ist in den Trümmern gefunden worden, sie auch, ihre schwere Beinverletzung ist nur notdürftig versorgt. Mit einem Cousin und anderen Familienmitgliedern campiert Nancy 15 Kilometer von Port-au-Prince, nicht weit vom Epizentrum des Bebens.

Den Leichnam ihrer Großmutter finden sie ein paar Tage später. „Sie haben sie verscharrt, sie haben alle genommen und weggeschmissen“, sagt Venita. Vor einem Jahr hat sie versucht, das Grab ihrer Mutter zu finden. „Doch da war nichts“. Nach der Katastrophe sind die Toten in Haiti mit Lastwagen und Baggern abtransportiert worden, sie haben Massengräber ausgehoben, für Tausende. Die Angst vor Krankheiten ist groß und kurz danach bricht tatsächlich die Cholera aus.

Fotos aus Haiti

Venita hat noch ein paar Fotos vom Besuch in Haiti. Die Bilder zeigen eine Hochzeit und viele gut gelaunte Leute, Helena lacht in die Kamera. In Haiti leben noch immer einige Cousins der Frauen. Die Männer auf den Fotos tragen Hemden, die Braut Weiß: Alltag und Feste der Haitianer mitten in Armut und politischem Chaos. Und in Deutschland? Gibt es kaum Landsleute, 81 Haitianer sind es in Bayern.

Nancy schreibt bis heute regelmäßig in die Heimat, über Whats-app und Facebook ist das andere Ende der Welt nicht weit weg. Die 32-Jährige spricht mittlerweile ordentlich Deutsch. Während ihrer Ausbildung zur Altenpflegehelferin hat sie Unterricht bekommen, sie ist bald zu Ende und Nancy hofft auf einen Job.

Der Weg dahin war weit, Venita erinnert sich gut daran. Sie wendet sich kurz nach der Katastrophe ans Auswärtige Amt, das Nancys Einreise unterstützt. Doch das bayerische Innenministerium legt sich quer. E-Mails, Telefonate, abwarten, anrufen, auf Antwort warten: Venitas Nerven liegen blank in diesen Tagen, und sie raucht viel.

Doch die Menschen in Kempten bangen mit ihr, die Zeitung berichtet. Ärzte, Hilfsorganisationen, Privatleute, Schüler – auf einmal wollen alle helfen. Schließlich steht fest: Nancy kann kommen. Sie wird ausgeflogen und bis vor Venitas Haustür gebracht. In deren Wohnung lebt sie bis heute, vor drei Jahren kommt Aliyah zur Welt.

Ach ja, Männer, Väter, Liebhaber. Venita lacht. Ein netter und anständiger, das wäre was, meint sie dann. „Da sag ich mein Alter vielleicht nicht.“ Nancy prustet. Helena schaut zur Decke. Venita ist 56.

 
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