Es wäre ja menschlich zu resignieren. Wenn man Dinge sagen muss wie: „Alle Fälle werden wir nie erledigen.“ Oder: „Wir kennen noch nicht einmal alle Verbrechen - und schon gar nicht kennen wir alle Verbrecher.“ Aber aufgeben, das widerspräche dem Berufsethos von Jens Rommel.
Mord verjährt nicht. Ebenso wenig Beihilfe oder Anstiftung dazu. „Deshalb haben alle Strafverfolgungsbehörden den Auftrag, weiter zu ermitteln, trotz der geringer werdenden Aussichten, lebendige Tatverdächtige benennen zu können“, sagt Rommel. Deshalb gibt es noch immer solche Prozesse wie nun gegen einen früheren Wachmann der SS im Konzentrationslager Auschwitz. Deshalb ist Jens Rommel Deutschlands oberster und vermutlich auch letzter Nazi-Jäger.
Keine Verwandtschaft zu Erwin Rommel
Offiziell nennt er sich anders. Jens Rommel – weder verwandt noch verschwägert mit dem einstigen Generalfeldmarschall aus Herrlingen bei Ulm – ist seit Oktober 2015 der sechste Leiter der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg.
Zusammen mit seinem Experten-Team ermittelt er Taten und Täter der Nazi-Herrschaft, um die Erkenntnisse dann an die jeweils zuständige Staatsanwaltschaft weiterzuleiten.
Wie eben im Fall des heute 94-jährigen Mannes, der in Auschwitz als Wachmann arbeitete und dem Beihilfe zum Mord in mindestens 170 000 Fällen vorgeworfen wird. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Mann, der das Lager und die ankommenden Transporte überwachte, auch die Tötungsmethoden des Konzentrationslagers kannte. Das Landgericht Detmold verhandelt den Fall seit zwei Wochen. Am heutigen Freitag ist wieder ein Sitzungstermin.
Karriere nicht geplant
Es sind Fälle wie diese, die die Arbeit der Zentralstelle in den Mittelpunkt rücken. Fälle, in denen Behördenleiter Rommel zur gefragten Person wird. Geplant hat der 43-Jährige, in Ellwangen geboren und in Ravensburg aufgewachsen, diesen Karriereschritt nicht.
Für ihn schienen die juristischen Wanderjahre gerade vorbei zu sein. Da war das Jurastudium in Augsburg, Würzburg, Lyon und Lund. Dann das Rechtsreferendariat in Augsburg, Stationen an Gerichten in Riedlingen bei Ulm und Biberach sowie beim Justizministerium in Stuttgart und der Landesvertretung in Brüssel. Bis es für Rommel schließlich als Oberstaatsanwalt zurückging nach Ravensburg. Der Kreis schloss sich.
Dann kam der überraschende Anruf aus dem Justizministerium von Baden-Württemberg. Ob er sich vorstellen könne, die Nachfolge des renommierten Nazi-Ermittlers Kurt Schrimm anzutreten? Uralte Akten statt frischer Ermittlungen. Umzug nach Ludwigsburg mit Fernbeziehung. Am Ende sagte Rommel Ja.
„Es ist eine einmalige Chance“, findet der Jurist. Schließlich gibt es weltweit nur einen vergleichbaren Posten. Auch andere Staaten arbeiten ihre Diktaturen auf. Doch so wie in Ludwigsburg macht es niemand.
Und Rommel ist nicht nur der Einzige, sondern wahrscheinlich auch der Letzte seiner Art. Denn die Zeit für die Strafverfolger läuft ab. Vor Gericht werden nur noch greise Frauen und Männer gestellt. Wer am Ende des Krieges gerade erwachsen war, ist heute über 90.
Öffentlichkeitswirksame Prozesse
Und doch bereitet Rommels Einrichtung noch immer den Boden für öffentlichkeitswirksame Prozesse. Wie der in Detmold. Oder in Neubrandenburg, wo von Ende Februar an ein 95 Jahre alter früherer Angehöriger des SS-Sanitätsdienstes in Auschwitz-Birkenau vor Gericht steht. In Hanau soll Mitte April das Hauptverfahren gegen einen 93-jährigen Ex-Wachmann des Konzentrationslagers beginnen – vor der Jugendkammer, weil er zu Beginn des fraglichen Zeitraums erst 19 Jahre alt war.
In Kiel ist eine 92-jährige Frau angeklagt. Als Funkerin der Lager-Leitung soll sie bei der systematischen Ermordung verschleppter Juden geholfen haben.
Die Gründung der Zentralstelle erfolgte vor dem Hintergrund des spektakulären Ulmer „Einsatzgruppen-Prozesses“ von 1958. In der Stadt werden zehn Männer zu Haftstrafen zwischen drei und 15 Jahren verurteilt, weil sie 1941 in Litauen etwa 5500 Juden getötet haben. Die Urteile fallen aus heutiger Sicht milde aus.
Im Laufe des Verfahrens wird deutlich, wie viele Nazi-Verbrechen noch nicht aufgearbeitet, wie viele Helfer des Regimes noch nicht belangt sind, gerade in den vom ehemaligen Deutschen Reich besetzten Ländern, sowie mit Blick auf die Massenmorde in Konzentrationslagern.
Die Ludwigsburger NS-Ermittler ziehen in ein ehemaliges Frauengefängnis mit hohen Mauern und schwerem Tor. Es ist kein besonders gastlicher Ort, aber es geht ja auch nicht ums Wohlfühlen. Die Stelle soll Vorermittlungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen führen, die dann an die Staatsanwaltschaften weitergegeben werden – so wie es heute noch üblich ist. Im Laufe der Jahrzehnte kommen bundesweit 7590 Verfahren zusammen.
Aus manchen Vorgängen werden spektakuläre Prozesse: Julius Viel in Ravensburg, John Demjanjuk in München, Oskar Gröning, der „Buchhalter von Auschwitz“, in Lüneburg.
Das alles ist 1958, als die Zentralstelle gegründet wird, nicht abzusehen. Es ist eine andere Zeit, eine andere Bundesrepublik. Der Weltkrieg ist seit 13 Jahren zu Ende. Da Mord damals noch nach 20 Jahren verjährt, soll die Arbeit der Nazi-Jäger 1965 abgeschlossen sein. Erst später wird der Bundestag die Verjährung aufheben – auch wegen der NS-Täter.
Juristische Aufarbeitung der Nazizeit als Dorn im Auge
1958 also. Peter Kraus singt „Wenn Teenager träumen“, der persische Schah lässt sich scheiden, die deutsche Wirtschaft wächst weiterhin rasant. Vielen passt die juristische Aufarbeitung der Nazizeit nicht. Die neuen Mitarbeiter der Zentralstelle finden keinen Vermieter, Taxifahrer weigern sich, sie zur Arbeit zu fahren. Wer zum Gebäude will, nennt dem Fahrer lieber die Adresse des nahe gelegenen Krankenhauses.
Heute ist Ludwigsburg der Einrichtung „sehr verbunden“, wie Oberbürgermeister Werner Spec betont. Zur Verabschiedung Schrimms und Einsetzung Rommels im vergangenen Jahr lädt Baden-Württembergs Justizminister Rainer Stickelberger Politiker, Würdenträger und Spitzenjuristen in die beste Stube der Stadt, den prächtigen Ordenssaal des barocken Ludwigsburger Residenzschlosses.
Erst im Frühjahr hat er seine Amtskollegen aus den anderen Bundesländern überzeugen können, einen Nachfolger für Schrimm zu bestimmen. Keine Selbstverständlichkeit, schließlich muss die Zentralstelle von allen Bundesländern bezahlt werden.
Hinzu kommt: Die Aussichten, dass Rommel und seine Mitarbeiter weitere NS-Verbrecher vor Gericht bringen können, schwinden. Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende arbeiten die Ermittler gegen die Zeit. Der Großteil der Täter ist tot. Die, die noch leben, waren zur Tatzeit so jung, dass sie kaum wichtige Posten im SS-Regime innehatten.
Und bei den heute über 90-jährigen Verdächtigen ist die Frage der Verhandlungsfähigkeit beinahe schon die erste, die sich stellt. Auch aus diesem Grund ist die Arbeit der Zentralstelle umstritten. Fast täglich hört Rommel die Frage, ob der Staat sehr alte Menschen noch vor Gericht zerren muss.
Für den Juristen stellt sie sich nicht. „Die Nazis haben auch keine Rücksicht genommen auf das Alter ihrer Opfer“, sagt er. Der Rechtsstaat sei es diesen Opfern moralisch schuldig, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Gerade die Verhandlung im vergangenen Jahr gegen den heute 94-jährigen Oskar Gröning im niedersächsischen Lüneburg (Urteil: vier Jahre Haft) hätte gezeigt, „was ein Strafprozess auch nach 70 Jahren noch leisten kann“. Gespannt wartet Rommel auf die Revision. Sie könnte eine neue Rechtspraxis bewirken. Wieder einmal.
"Die eigentlichen Täter waren Hitler und Co."
In der Tat hat sich die Rechtsauffassung über die Jahre radikal geändert. Die Täter im Ulmer Prozess 1958 konnten sich trotz nachgewiesener Morde darauf berufen, nur Mitläufer gewesen zu sein. Die eigentlichen Täter seien Hitler, Goebbels oder Himmler gewesen. Das Urteil gegen John Demjanjuk im Jahr 2011, vorermittelt in Ludwigsburg, ändert diese Sichtweise fundamental.
Demjanjuk kann zwar keine konkrete Tat zugeschrieben werden, doch er sei im Lager Sobibor „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen, befinden die Richter und verurteilen ihn zu fünf Jahren Haft. Damit eröffnen sich für die Ermittler in Ludwigsburg neue Ansätze: Zig Vorermittlungsverfahren gegen Aufseher in Auschwitz-Birkenau werden eingeleitet, in Aalen wird der frühere SS-Mann Hans Lipschis festgenommen.
Doch dieser ist nicht mehr verhandlungsfähig, das Verfahren wird nicht eröffnet.
Neue Ansätze ergeben sich auch durch andere Quellen. Durch südamerikanische Akten über dortige Einwanderer, die nach 1945 kamen. Durch russische Archive, die bisher verschlossen waren.
Und dann? Was passiert, wenn Täter und Zeugen nicht mehr da sein werden? Klar ist: Die Einrichtung in Ludwigsburg wird sich auf Dauer neu erfinden müssen. Sie soll Erinnerungs- und Gedenkort werden. Schon heute teilen sich die 19 Mitarbeiter das Gebäude mit Archivaren und Forschern der Universität Stuttgart. Das Bundesarchiv betreibt hier eine Außenstelle, da die Ermittlungsakten längst Archivakten sind. 1,7 Millionen Karteikarten, 800 Meter Akten hat Archivleiter Peter Gohle unter sich. „Nur schwere Fälle“, sagt er.
Immer wieder kommen auch Menschen hierher, die wissen wollen, ob ihre Eltern oder Großeltern an schweren NS-Verbrechen beteiligt waren. Und manchmal werden sie fündig, erzählt Gohle. Manch einer tritt danach in den Förderverein ein. Vielleicht ist das schon der erste Pfeiler der Brücke in die Zeit, wenn Jens Rommel keinen Mörder mehr aufspürt. mit Informationen von anf und dpa
So arbeitet die Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen
Gründung: Die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ sitzt in Ludwigsburg, unweit von Stuttgart. Die gemeinschaftliche Einrichtung aller Landesjustizverwaltungen der Bundesrepublik Deutschland hat ihre Arbeit 1958 aufgenommen. Aufgabe: Die Zentralstelle soll das Material über NS-Verbrechen im In- und Ausland sammeln, sichten und auswerten.
Ziel ist es, festzustellen, welche mutmaßlichen Täter noch verfolgt werden können. Die Einrichtung führt dabei die Vorermittlungen. Verfahren: Seit ihrer Gründung hat die Behörde nach eigenen Angaben 7590 Ermittlungsverfahren eingeleitet. 7583 Vorermittlungssachen wurden abgeschlossen. In den meisten Fällen hat die Zentralstelle sie an die regional zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben, die dann strafrechtliche Verfahren eingeleitet haben.
Darüber hinaus hat die Behörde bislang 117 829 Vorgänge überprüft sowie Anfragen bearbeitet. Dokumente: Die Digitalisierung ist in der Zentralstelle noch nicht angekommen. Vielmehr greift die Behörde nach wie vor auf Karteikarten zurück. Das Datenzentrum gleich einer Abstellkammer.
Dieser umfasst mehr als 1,7 Millionen Karteikarten – gegliedert nach Tätern, Verdächtigen, Zeugen und Tatorten. Die gesonderte Dokumentensammlung enthält über 558 300 Kopien. Um das richtige Dokument zu finden, wird auf rund 163 000 Karteikarten zurückgegriffen, auf denen festgehalten ist, wo die Originaldokumente lagern. Leiter: Seit Oktober 2015 leitet Jens Rommel die Behörde.
Er ist der sechste Mann an der Spitze. „Schon der erste Leiter hat gedacht, er ist der letzte“, sagt Rommel über seinen Posten als oberster Nazi-Jäger. Mitarbeiter: Zwischen 1967 und 1971, als gleichzeitig über 600 Vorermittlungsverfahren zu bearbeiten waren, waren in der Behörden 121 Mitarbeiter tätig – darunter 49 Staatsanwälte und Richter. Inzwischen sind hier nur noch 19 Mitarbeiter beschäftigt – Behördenleiter Jens Rommel, sechs Dezernenten sowie zwölf weitere Mitarbeiter.
Darunter sind zwei Dolmetscher für Russisch und Polnisch. Bundesarchiv: Im Jahr 2000 hat das Bundesarchiv am Sitz der Zentralstelle eine eigene Außenstelle eingerichtet. In diesem Zuge hat es Unterlagen, die nicht mehr für laufende Ermittlungen benötigt werden, von der Zentralstelle übernommen.
Heute ist das Bundesarchiv dafür zuständig, Auskünfte zu erteilen. Zudem kümmert es sich um Wissenschaftler, Schulklassen oder andere Besucher, die Einsicht in die Unterlagen nehmen wollen. Zukunft: Die Justizminister der Länder haben auf ihrer Konferenz im Juni 2015 in Stuttgart beschlossen, dass die Zentralstelle „in ihrer bisherigen Form weitergeführt“ werden soll, „solange Strafverfolgungsaufgaben anfallen“. Etwa zehn Jahre dürfte die Zentralstelle als Ermittlungsbehörde noch bestehen bleiben. AZ