Der Lindauer Kripochef Kurt Kraus und die Allgäuer Journalistin Ingrid Grohe haben zuweilen beruflich miteinander zu tun. Bei einer Plauderei am Rande des Geschäftlichen stoßen sie auf eine Gemeinsamkeit: Vor genau 30 Jahren waren sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort – am Pfingstmontag 1986, dem 19. Mai, in Wackersdorf in der Oberpfalz. Als „Pfingstschlacht“ ging dieses Wochenende in die Geschichte der geplanten und dann doch nicht gebauten Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe aus Kernreaktoren ein. Die damals 21-jährige Zeitungspraktikantin aus Hergatz im Westallgäu und der 27-jährige Polizeischüler aus Augsburg standen diesseits und jenseits des Bauzauns. Beide erlebten diesen Tag als eine Art Krieg – auf gegnerischen Seiten.
Der Pfingstmontag 1986 ist der einzige Tag in meinem Leben, an dem ich so etwas wie Krieg erlebt habe.
Jeder Polizist, der an Pfingsten 1986 in Wackerdorf dabei war, sagt – zumindest flapsig –, dass es wie im Krieg war. Ich habe dort entwürdigende Situationen miterlebt. Die Polizisten hatten den Auftrag, innerhalb des Bauzaunes Streife zu gehen, und wurden massiv mit Stahlkugeln beschossen. Die Polizeifahrzeuge innerhalb des Zauns haben ausgesehen wie Siebe. Unsere Einheit wurde aus dem Wald mit Leuchtspur-Munition beschossen. Ein Kollege hat eher aus Zufall den Schild hochgezogen. Da schlug ein Geschoss ein. Hätte er den Schild nicht hochgenommen, wäre er im Brust- oder Bauchbereich getroffen worden. Wir alle haben dann unsere Visiere runtergeklappt und die Schilde hochgenommen.
Ich und meine Freunde bewegten uns eher am Rand des Geschehens. Da kamen Wasserwerfer von dem leeren Gelände auf den Zaun zugefahren und haben ihren Wasserstrahl auf uns Demonstranten gerichtet. Es war ein Angriff. Ich hatte zuvor gedacht, Wasserwerfer machen die Leute nass. Dass der Strahl Menschen meterweit schleudern kann, habe ich an dem Bauzaun erlebt. Und dann war ja Tränengas beigemischt, das beißend brennt und den Atem raubt. Die Leute bekamen Atemnot, die Augen tränten.
Es ist eine interessante Sichtweise, wenn Sie sagen: „die Angriffe der Wasserwerfer“. Wir sahen das genau andersherum: Die Demonstranten wollten entweder über den Zaun klettern oder haben durch den Zaun auf die Polizisten geschossen. Sie sagen „Angriffe“. Ich sage: Die Wasserwerfer wollten verhindern, dass Demonstranten über den Zaun aufs Gelände kommen.
Wäre der Zaun zu überklettern gewesen? Ich hatte das Gefühl, das geht gar nicht.
Er war schwer zu überwinden. Aber die Demonstranten haben Baumstämme an den Zaun gestellt. Im Lauf der Auseinandersetzungen wurde er deutlich erhöht.
Die allermeisten Demonstranten waren friedlich. Manche versuchten, die radikalen Demonstranten umzustimmen, indem sie Friedenslieder sangen. Das kam mir völlig unsinnig vor, fast schon naiv. Da hat sich eine ganz eigene Dynamik entwickelt unter einem Teil der Demonstranten. Die griffen zu Waffen und wurden total aggressiv. Und mit jeder Reaktion der Polizei setzten sie eins drauf.
Aus meiner Sicht haben gewalttätige Demonstranten ganz bewusst in Kauf genommen, dass Polizisten verletzt oder getötet werden. Da habe ich mich gefragt: Was hat der Staat diesen Menschen getan? Haben sie keine Perspektive? Was macht diesen Hass aus? Die Wiederaufarbeitungsanlage kann's nicht gewesen sein. Warum geht ein Mensch so gegen den Staat – und Polizeibeamte als personifizierten Staat – vor? Das waren keine Demonstranten, sondern Anarchisten. Die suchten die kriegerische Auseinandersetzung mit dem Staat.
Sie sprechen von den Autonomen. Sie warfen Molotowcocktails und Steine auf die Wasserwerfer. Die große Masse der Leute hat aber einfach nur demonstriert.
Aus meiner Sicht waren das drei Gruppen – die Demonstranten, die ernsthaft die Wiederaufarbeitungsanlage verhindern wollten, Anarchisten und Schaulustige, die nur mal wissen wollten, was abgeht.
Meine Freunde und ich kamen aus der Katholischen Jugend und der Friedensbewegung. Die Autonomen lehnten wir ab. Aber je heftiger man attackiert wurde, desto näher fühlte man sich denen. Manche Autonome hatten Sanitäterbinden am Arm und spülten Leuten, die nichts mehr sahen, die Augen aus. Unser gemeinsamer Feind war die Polizei. Ich hab da ein schlimmes Bild vor Augen: Ein Hubschrauber kreiste über der Masse von Tausenden. Aus dem Hubschrauber warfen Polizisten Tränengas-Kartuschen in die Menge. Dann ging der Hubschrauber runter, um das Gas zu verwirbeln. Menschen stürzten von der Druckwelle, ohrenbetäubender Lärm, Nebel, beißendes Gas, Panik. Ich sah das aus der Entfernung und dachte: Hoffentlich gibt es keine Toten. Klar habe ich den Staat da als Feind empfunden. Das hätte die Polizei niemals machen dürfen.
Dazu kann ich nichts sagen, die Szene habe ich nicht beobachtet. Als Polizeischüler kannte ich die taktischen und strategischen Überlegungen der Führung nicht. Aber die Anarchisten waren aus allen Teilen Deutschlands, sogar aus anderen Ländern angereist, um in Wackersdorf ihren persönlichen Krieg mit dem Staat zu führen.
Es war erschreckend, wie alles eskaliert ist. Ich habe von Weitem gesehen, wie Autonome an einem leeren Mannschaftswagen schaukelten. Er ist dann umgefallen und ging in Flammen auf. Ich weiß nicht, ob ich laut gejubelt habe – aber innerlich habe ich applaudiert. Zugleich bin ich zutiefst erschrocken über mich selbst. Und habe beschlossen, dass ich mich nie mehr so weit bringen lassen will.
Ich weiß von Kollegen, die in Mannschaftswagen saßen, die geschaukelt wurden. Die fürchteten um ihr Leben und dachten: Wenn der Wagen umkippt, haben wir ein Riesenproblem; dann werden wir rausgezogen und mit Sicherheit verdroschen – wenn nicht mehr.
: Ich habe nicht einzelne Polizisten als Feinde angesehen. Aber mit Helm, zugeklapptem Visier und Schild oder in gepanzerten Fahrzeugen, die uns angreifen, waren sie anonyme Feinde.
Es war für die Polizei unglaublich schwierig, die Demonstranten auseinanderzuhalten. Wir haben vorher von Krieg gesprochen. Im Krieg gibt es auch Kollateralschäden. Aus meiner Sicht waren das teilweise Kollateralschäden, die da passiert sind. Dass auch friedliche Demonstranten mitbetroffen waren, war aus meiner Sicht unvermeidbar.
Ich war überzeugte Kernkraftgegnerin. Die Katastrophe von Tschernobyl wenige Wochen vorher hat uns schockiert. Danach war die Welt eine andere, und zwar ganz konkret. Deshalb entschied ich mich, in Wackersdorf zu demonstrieren – und erlebte, wie ich als friedliche Demonstrantin attackiert wurde.
Das Abfeuern von Stahlkugeln und Leuchtkugeln sind nun mal Straftaten. Die Polizei konnte dem nicht zuschauen. Man kann auf der einen Seite deeskalieren, aber auf der anderen Seite muss die Polizei Straftaten auch verfolgen.
Ja klar. Aber die Demonstranten sahen es als ihre Pflicht an, den Ausbau der Atomkraft zu verhindern. Schlimmste Befürchtungen waren mit Tschernobyl wahr geworden. Man war verunsichert, was man essen sollte. Man kaufte H-Milch auf Lager; man achtete darauf, aus welcher Himmelsrichtung der Wind wehte, informierte sich täglich über Becquerel-Werte.
Die die Frage nach der Einstellung stellte sich für die Polizisten in Wackersdorf nicht. Unsere Aufgabe war es, die Anlage gegen die Krawallmacher zu verteidigen. Heute sage ich, ich bin froh über den Ausstieg aus der Atomkraft. Aber ich hätte mir einen europaweiten Konsens dazu gewünscht.
Am Bauzaun habe ich Dinge erlebt, die eines demokratischen Staates nicht würdig sind. Nach dieser Erfahrung habe ich eine Zeit lang stark am Rechtsstaat gezweifelt, die Demokratie war in meinen Augen beschädigt.
Bei mir trug Wackersdorf dazu bei, dass ich mein Demokratieverständnis geschärft habe. Für mich sind die Grundrechte ein sehr hohes Gut: körperliche Unversehrtheit, die unantastbare Würde des Menschen. In Wackersdorf gab es Situationen, da bezweifle ich, ob die Würde des Menschen in jeder Konsequenz geachtet worden ist.
Damals sagte ein Vertreter der Polizeigewerkschaft in einem Interview, im Kampf um Wackersdorf werde das Verhältnis von Polizei und Gesellschaft ramponiert.
Das war vielleicht für Menschen so, die dort waren, die sich wie Sie direkt angegriffen gefühlt haben. Die Gesamtgesellschaft hat durch Wackersdorf die Einstellung zur Polizei nicht geändert.
Das kann stimmen. Wir konnten unsere Erfahrungen ja auch nur schwer daheim vermitteln. Manche Bekannte kapierten einfach nicht, dass wir braven jungen Leute zu diesen Chaoten am Bauzaun stoßen – die glaubten uns nicht, dass die meisten Demonstranten friedlich waren. Ganz schwierig war danach die Stimmung im Elternhaus. Wir haben das Thema ausgeklammert, und wenn es doch auf den Tisch kam, gab es Streit. Mein Vater, ein überzeugter CSU-Wähler, war fortschrittsgläubig und natürlich für Atomkraft.
Der konnte nicht fassen, dass man dagegen demonstriert. Ich war der Überzeugung, die Staatsführung habe die Eskalation bewusst herbeigeführt, um die Atomkraftgegner gesellschaftlich zu isolieren. Ob das so stimmt, weiß ich nicht. Aber ich würde heute – abgeschwächt – sagen, man hat Eskalationen und Radikalisierung zumindest in Kauf genommen. Verwendet die Polizei eigentlich noch Tränengas bei Demonstrationen?
Meines Wissens nicht. Ich kenne keinen Fall, wo es in den letzten Jahren eingesetzt wurde.
Wackersdorf und die wichtigsten Stationen im Kampf gegen die Wiederaufbereitungsanlage
September 1980: Unter der Führung der SPD/FDP-Koalition in Bonn beschließen Bund und Länder eine zügige Verwirklichung einer Wiederaufarbeitungsanlage (WAA). Frühjahr 1982: Die Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) beantragt bei der Regierung der Oberpfalz in Regensburg ein Raumordnungsverfahren für die WAA. Standorte in Rheinland-Pfalz (Hambuch, Illerich), Hessen (Frankenberg-Wangershausen) und Niedersachsen (Gorleben) hatten sich zerschlagen. September 1985: Bayerns Umweltministerium erteilt die erste atomrechtliche Teilerrichtungsgenehmigung für die WAA in Wackersdorf.
Dezember 1985: Die DWK beginnt mit der Rodung des 200 Hektar großen Forstgebietes und errichtet über 4,8 Kilometer einen Sicherungszaun. März 1986: Bei einer Osterdemonstration setzt die Polizei erstmals in Deutschland CS-Reizgas gegen Demonstranten ein. 280 Menschen werden festgenommen. Demonstranten und Polizisten werden verletzt. Mai 1986: Bei den bis dahin blutigsten Krawallen am WAA-Bauzaun werden an Pfingsten knapp 400 Menschen verletzt, darunter zahlreiche Polizisten. Der verantwortliche Polizeipräsident von Niederbayern und der Oberpfalz, Hermann Friker, muss gehen. September 1986: Ein Polizeihubschrauber kollidiert bei der Verfolgung von Demonstranten mit einem Triebwagen der Bundesbahn in der Nähe des Baugeländes. Dabei kommt ein Beamter ums Leben, vier weitere werden zum Teil schwer verletzt. April 1987: Das Münchner Verwaltungsgericht hebt die erste atomrechtliche Teilerrichtungsgenehmigung auf und erklärt den Bebauungsplan für die WAA als nichtig. Die Arbeiten an der WAA gehen jedoch weiter. August 1988: Nach 23 Verhandlungstagen beendet das bayerische Umweltministerium den Erörterungstermin für die zweite Teilgenehmigung. Es lagen 881 000 schriftliche Einwände von WAA-Gegnern vor.
November 1988: Die DWK gesteht ein, dass die WAA fast doppelt so teuer wird wie ursprünglich geplant. 1985 waren noch rund fünf Milliarden Mark veranschlagt worden. Mai 1989: Die Bauarbeiten werden eingestellt. Bis zum Stopp wurden nach DWK-Angaben rund 2,6 Milliarden Mark ausgegeben. In anderen Quellen ist von zehn Milliarden Mark die Rede. Zuletzt waren knapp 2000 Techniker und Arbeiter mit der WAA beschäftigt. dpa/ioa