Ein Kletterfelsen hat ihn nach Freienfels, einem Stadtteil der Gemeinde Hollfeld im Landkreis Bayreuth gebracht: Der 43-jährige Matthias Stöcker aus Windischletten bei Scheßlitz hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen bisher nicht erschlossenen Felsen der Fränkischen Schweiz für Kletterer zugänglich zu machen. Dafür pachtete er kurzerhand das Grundstück, auf dem dieser Felsen steht. Aber nicht nur Kletterrouten hat er seitdem erschlossen – so ganz nebenbei machte er noch eine ungeheuerliche Entdeckung: Er stieß auf die Geschichte eines Mannes, der seit frühester Jugend in seinem Elternhaus eingeschlossen sein sollte. Das „Dorf-Phantom“, wie die Medien den Mann mittlerweile nennen.
Viele Stunden hat Matthias Stöcker, der ursprünglich aus dem Weindorf Iphofen im Landkreis Kitzingen stammt, in dem Dorf verbracht. 2800 Einwohner hat Hollfeld, ein beschaulicher, ein typisch fränkischer Ort. Am kommenden Wochenende ist Herbstmarkt mit der örtlichen Jugendblaskapelle, und in den Vereinen laufen schon die Vorbereitungen für das Jubiläumsjahr 2017, wenn die Gemeinde ihre Erstnennung als „Holevelt“ vor 1000 Jahren feiert. Der große Festzug ist für den 16.
Juli geplant. So viel Aufmerksamkeit aber wie in den vergangenen Tagen hat Hollfeld wohl noch nie gehabt in seiner 1000-jährigen Geschichte, und das liegt an dieser fast unglaublichen Story über den eingesperrten Mann, die im knapp fünf Kilometer entfernten Ortsteil Freienfels spielt. Seit er das Grundstück mit dem Felsen gepachtet hat, ist Matthias Stöcker häufig hier gewesen, oft gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin oder Freunden, aber immer wieder auch alleine.
Der Kletterer ist ein kommunikativer Typ, und so ist er schnell mit den Dorfbewohnern ins Gespräch gekommen. Dabei hört er Anfang Juni dieses Jahres und dann immer wieder auch eine Geschichte, die ihm zunächst sehr unwahrscheinlich vorkommt: In einem der Häuser soll ein Mann leben, der seit rund 30 Jahren nicht mehr im Dorf gesehen wurde. „Ich habe angefangen, mich gezielt nach diesem Mann zu erkundigen, und festgestellt, dass einige im Dorf von ihm gewusst haben.“ Auch hörte er hin und wieder Geschichten von Besuchen bei der Familie, diese lagen aber stets viele Jahre zurück.
Matthias Stöcker fragt immer weiter nach, erkundigt sich auch bei der Gemeinde. Dort liegen seit der Kinderzeit keine Unterlagen mehr über den Mann vor. Einmal klingelt Matthias Stöcker sogar an der Haustür der Familie, aber es öffnet ihm niemand.
Ein paar Tage später verständigt er die Polizei. Er wird als Zeuge geladen. „Ich wurde über eine Stunde befragt, teilweise wurden auch dieselben Fragen mehrfach gestellt. Aber das ist ja auch ein schwerer Vorwurf, und somit ist es verständlich, dass dieser im Vorfeld auch exakt geprüft wird.“
Eine Zeit lang hört er nichts mehr von der Polizei. Dann, er ist gerade im Urlaub in den Dolomiten, klingelt sein Handy. Ein Journalist einer Regionalzeitung ist dran, er möchte ihn auf der Stelle interviewen. „Er hat mir gesagt, dass die Polizei mit acht Beamten und einem Rettungswagen im Dorf vorgefahren ist und den gesuchten Mann mitgenommen hat.“
Von da an geht alles ganz schnell. „Erst hat die Regionalzeitung berichtet, und dann kamen an den folgenden Tagen schon die Übertragungswagen vom Fernsehen.“ Der Medienrummel ist bis heute nicht abgerissen. Die Polizei ermittelt gegen die Eltern wegen des Verdachts auf Körperverletzung durch Unterlassung und Freiheitsberaubung, physisch miss- handelt sei er aber offenbar nicht worden, so die Beamten.
Außerdem geht die Polizei der Frage nach, ob der 43-Jährige, der sich in stationärer Behandlung befindet, eingesperrt worden war oder ob er das Haus hätte verlassen können. Nach ersten Erkenntnissen sei der Sohn als etwa 13-jähriger Junge von der Bildfläche verschwunden.
Viele Fragen in diesem außergewöhnlichen Fall bleiben bislang unbeantwortet: Wieso hat die Schulbehörde nicht nachgeforscht, als der Junge von der Schule fernblieb? Wieso wurde das Kreiswehrersatzamt nicht hellhörig (damals gab es noch die Wehrpflicht)? Was ist mit Arztbesuchen?
„So ein Fall ist mir noch nie passiert“, sagte Hollfelds Bürgermeisterin Karin Barwisch gegenüber dem BR. „Man macht sich selbst auch Vorwürfe. Hätte man das merken sollen?“ In mehreren Medien ist die Rede davon, dass die Mutter in Gesprächen mit Schul- oder Behördenvertretern sehr resolut aufgetreten sei. Gegenüber „Radio Bamberg“ habe sich die Mutter gegen die Kritik gewehrt: Ihr Junge sei gemobbt worden, deshalb sei er zu Hause geblieben. Sie habe ihn schützen wollen.
Im Dorf selbst sei der Junge immer mal wieder ein Thema gewesen. Reagiert aber hat niemand. Im Vorfeld seiner Aussage hatte sich Matthias Stöcker auch viele Gedanken gemacht: „Klar überlegt man sich, ob man das Richtige tut oder ob das überhaupt sein kann. Ich habe mich auch gefragt, warum nie jemand anderes auf die Idee gekommen ist, die Polizei zu informieren.“ Vielleicht hätten die Bewohner des Ortes den richtigen Zeitpunkt irgendwie verpasst, und dann die Angelegenheit lieber ruhen lassen – auch um den Dorffrieden nicht zu gefährden. Aber er möchte dem Mann helfen, der ungefähr genauso alt ist wie er selbst. „Wenn nichts gewesen wäre, dann wäre die Polizei eben unverrichteter Dinge wieder abgezogen.“
Hat er heldenhaft gehandelt? „Das würde ich nicht sagen. Ich denke, die meisten hätten an meiner Stelle das Gleiche getan. Vielleicht war es für mich als Außenstehenden auch leichter. Als der Mann aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, da war er 13. Ich habe mir auch überlegt, wie viel ich seitdem erlebt und gemacht habe, und was für eine unglaublich lange Zeit 30 Jahre sind“, sagt Stöcker. Zumindest sei dieser Fall nicht mit dem Fall Natascha Kampusch vergleichbar. Die Österreicherin war 1998 als Zehnjährige entführt und acht Jahre lang in einem Verlies gefangen gehalten worden, ehe sie fliehen konnte.
Angst, dass er jetzt in Freienfels, das von Medien auch als „Dorf des Schweigens“ bezeichnet wurde, geächtet wird, hat Matthias Stöcker jedenfalls keine. Denn er hat sich mit einigen Freienfelsern angefreundet. „Ich glaube, viele im Ort sind einfach froh, dass diese Geschichte ein Ende hat.“
Spektakuläre Fälle
2016
Über Jahre hinweg soll ein Ehepaar in seinem Haus in Höxter Frauen gefangen gehalten und misshandelt haben. Zwei von ihnen starben. Der Prozess um den Vorwurf des Mordes soll Ende Oktober beginnen. Bei den Ermittlungen wurde bekannt, dass der Tatverdächtige auch in Würzburg mit Bekanntschaftsanzeigen nach Opfern gesucht hatte.
2011
Die 21-jährige Würzburgerin Sandy M. wird neun Monate lang von einem Ehepaar aus Haßmersheim (Neckar-Odenwald-Kreis) wie eine Haussklavin gehalten und gequält. Das Heimkind hatte bei der Familie Unterschlupf gesucht, wurde misshandelt, konnte aber schließlich fliehen. Für die Geiselnahme erhielt der Ehemann später neun Jahre Gefängnis.
2008
In Österreich wird der Fall von Amstetten bekannt. Josef Fritzl hat seine Tochter 24 Jahre lang in ein Kellerverlies unter seinem Haus gesperrt und missbraucht. Sieben Kinder werden geboren. Die Tat wird bekannt, als Fritzl die Tochter in ein Krankenhaus bringt.
2002
Das Ehepaar, das die Würzburgerin Sandy entführte, hielt bereits Jahre zuvor Bianca, die Schwester der Ehefrau, in Wertheim (Main-Tauber-Kreis) 18 Monate lang wie eine Sklavin. Bianca war in einem Kellerverlies eingesperrt. Anfang Juni 2001 konnte sie fliehen.
1998
Die zehnjährige Natascha Kampusch wird in Wien auf dem Weg zur Schule entführt. Mehr als acht Jahre hält Wolfgang Priklopil das Mädchen in einem Kellerraum in seinem Haus gefangen. Am 23. August 2006 gelingt es Kampusch schließlich, durch eine versehentlich offen gelassene Gartentür vom Grundstück ihres Entführers zu fliehen. mas