Der Dichter Christian Friedrich Hebbel muss ein weiser Mann gewesen sein. Ist er doch schon lange vor Einführung des Internets zu der Erkenntnis gelangt: „Es gibt Dinge, die man bereut, ehe man sie tut. Und man tut sie doch.“ So ähnlich war die Gefühlslage zwischen mir und Facebook.
Eines Tages, im Sommer 2015, habe ich mich entschlossen, dem sozialen Netzwerk beizutreten. Zwar war die Karawane des Trends inzwischen zu digitalen Spielplätzen wie Snapchat oder Instagram weitergezogen. Aber das focht mich nicht an. Nicht an der Spitze der Bewegung zu leben war mir wichtig, sondern herauszufinden, warum Abermillionen von Menschen wegen Facebook sich und ihre Lebensgewohnheiten ändern. Also meldete ich mich an – mit Unterstützung meiner Frau, da ich aufgrund nur mäßig ausgeprägter digital-technischer Fähigkeiten dazu allein wohl nicht in der Lage gewesen wäre.
Wirkliche Internetpioniere waren wir Deutsche ja noch nie. Und nur die Hälfte der Internetnutzer interessiert sich hierzulande für Facebook oder Twitter. Das ist weltweit hinteres Mittelmaß. Social-Media-Muffel sind vor allem die Älteren, belegt eine Umfrage des amerikanischen Pew Research Center – also ich. Menschen zwischen 18 und 34 hingegen sind zu 81 Prozent bei diesen Dingen aktiv und im weltweiten Vergleich halbwegs gut dabei. In der Altersgruppe ab 35 aber sackt der Wert auf 39 Prozent ab. Ähnlich ausgeprägt ist diese Unlust nur noch in Pakistan. Zur Info: Ich bin 53.
Ich hielt die sozialen Netzwerke ebenfalls für geistlose, tendenziell verdummende Zeitverschwendung lebensunerfahrener Jugendlicher und für einen Tummelplatz für Wichtigtuer, die ihre Welt freiwillig auf Handy-Format verkleinern. Zwar war ich schon Mitglied in eher betulichen Netzwerken wie LinkedIn oder Xing, aber im Grunde pflegte ich dort das gemütliche Dasein einer virtuellen Karteileiche.
Ich hatte zunächst nur ein Ziel: möglichst viele Freunde finden. Mein erster Post lautete: Josef Karg, 9. Juni 2015: „Hi all, jetzt hat mich auch das Facebook-Fieber gepackt, 42 Grad.“
Binnen zwei Monaten hatte ich über 4000 Freunde. Dann ließ die Sammelleidenschaft nach. Gestern waren es 4958. Das Maximum von 5000 schaffte ich nicht. Es waren auch so mehr als genug.
Wie das Freundesuchen geht? Man blättert sich durch Listen von Freunden und hangelt sich von diesen weiter zu anderen. Außerdem bietet Facebook selbst Vorschläge an. Zunächst sammelte ich interessante Leute aus Kultur, Sport, Politik, Wirtschaft und Kirche. Ich stöberte in Parteien und Organisationen, dazu bei Freunden, Bekannten und Menschen, deren Gesichter mir sympathisch waren. Auch ihnen schickte ich ohne Skrupel Freundschaftsanfragen. Mehr als 90 Prozent gingen darauf ein.
Mein Gesicht musste ansprechend wirken, denn die allermeisten, die meine Freundschaftsanfragen bestätigten, kannten mich nicht. Ich hatte bald Freunde in ganz Deutschland, halb Europa, bekam Anfragen aus der ganzen Welt. Von asiatischstämmigen Damen aus den USA oder Menschen aus Regionen, deren Namen ich aufgrund der Schriftzeichen nicht einmal lesen konnte. Von weiblichen US-Generälen, von taiwanesischen Hausfrauen, von afrikanischen Kindern und südamerikanischen Priestern. Manche bettelten um Geld, andere um Liebe. Ich hatte nichts dergleichen zu bieten, den einen oder die andere musste ich wegen allzu großer virtueller Zudringlichkeit wieder löschen.
Dafür machte ich so manche im Grunde blödsinnige Idee mit. Postete auf Aufforderung alte Fotos – fünf in fünf Tagen – oder ließ mich darauf ein, den „Soundtrack meines Lebens“ – sieben Lieder, sieben Tage, also Pop-Klassiker wie „Shine on you crazy diamond“ bis „Viva la Vida“, zum Besten zu geben.
Bisweilen war ich selbst kreativ und sendete in der selbst entworfenen Fotoserie „Deutschland – deine Verbote“ dutzende Bilder von Verbotsschildern. Das begann beim Rasen, den man nicht betreten durfte, und endete beim Kinderspielplatz, auf dem keine Kinder spielen durften, oder bei Straßenschildern, auf denen gleichzeitig verboten und erlaubt war zu parken. Absurditäten des Alltags zu präsentieren, daran hatte ich Spaß. Und ein Teil meiner neuen Freunde auch.
An Tagen mit viel Freizeit fertigte ich Videos mit eigenen Liedern, sang gegen die Fremdenfeindlichkeit an und schwelgte für die Heimat, stellte Fotos aus meinem Alltag vor, wie es die meisten machen: ich beim Holzhacken, ich beim Schwimmen, ich beim Essen, ich beim Arbeiten, ich mit meiner Frau am Hochzeitstag. Ich habe aus der Arena des FC Augsburg Freud und Leid gepostet. Habe meine Interviews mit Prominenten wie Harald Krassnitzer oder Ulrich Noethen angekündigt. Trauerte bei Terroranschlägen öffentlich mit und kondolierte, wenn Prominente starben. Das macht man gerne mit drei Buchstaben: RIP, was so viel heißt wie: Ruhe in Frieden.
Zu meiner Lieblingsbeschäftigung wurde es, lyrische Skizzen zu erstellen, also nicht ganz fertige, aber schon lesbare, ungereimte Gedichte. Der Fan-Kreis blieb überschaubar. An manchen Tagen erntete ich Mitleid, an manchen fragten sie mich, wo sie das Zeug kaufen könnten, das ich genommen hätte.
Was immer ging, waren: kurze emotionale Texte oder Fotos zusammen mit meiner Frau. Da konnten sich dann schon mal über 200 Freunde zu einem „Like“ durchringen. Ich lernte: kurz, emotional, skurril, positiv müssen die Beiträge sein, um gemocht zu werden. Relevanz ist nachrangig. Und: Mit Bild oder Film kommt besser an als ohne.
Und ohne Smartphone ging nichts mehr. Fortan hatte ich das Gerät, das ich früher meist irgendwo verlegt hatte, immer bei mir. Morgens fiel der erste Blick darauf, abends der letzte. Bis zu hundertmal am Tag schaute ich aufs Display. Ich postete und postete – manchmal fast wie ein Verrückter.
Bisweilen mussten mich meine Frau und die Kinder aus der virtuellen Welt zerren, weil dort immer etwas los war oder es etwas zu diskutieren gab. Nachmittage lang lieferte ich mir mit Rechtspopulisten, Verschwörungstheoretikern und anderen seltsam verschrobenen Zeitgenossen oft irre Dialoge, die meist in gegenseitigen Beschimpfungen endeten. Irgendwann wurde aber auch mir klar, dass es völlig sinnlos ist, diese Menschen mit Argumenten überzeugen zu wollen.
Dazu kam der ständige Strom an neuen Nachrichten aus der gesamten Medienwelt via Twitter, von der New York Times bis zum Grevenbroicher Tagblatt und der Neuen Zürcher Zeitung. Abends war ich oft fix und fertig. Vollgesaugt mit Terror, Trump, Brexit und Grexit, Flüchtlingen und AfD, Putin und Amokläufen. Das Leben fühlte sich oft wie eine einzige Katastrophe an. Glücklicherweise gab es die Gedichte
Natürlich fragte ich mich bald: Warum macht man als halbwegs vernünftiger Mensch so viel offensichtlichen Unsinn, vergeudet seine Echtzeit im Virtuellen und zeigt Suchtsymptome? Einen wesentlichen Grund nennt der Münchner Sozialpsychologe Werner Degenhardt: Das Empfangen eines Likes komme der Befriedigung eines Grundverlangens gleich, behauptet er. Der Like-Button fungiere als „soziales Feedback-Instrument“, das dem Nutzer zu erkennen gibt, ob er noch seiner sozialen Gruppe angehört und ankommt. „Instant gratification“ nennen Fachleute diesen Kick, wenn man etwas postet und sofort mit Likes belohnt wird.
Deswegen posten wir all die oft – sorry – bescheuerten Urlaubsfotos, Tier- und Babybilder: Weil es sich verdammt gut anfühlt, wenn einem die Leute virtuell zulächeln oder auf die Schulter klopfen. Nichts anderes signalisiert das Drücken des „Gefällt mir„-Knopfes. Und: Facebook hat gegenüber der echten Welt einen enormen Vorteil. Der Aufwand ist gering. Es ist tausendmal einfacher, von sich ein Bild online zu stellen, als sich real zur Schau zu tragen. Ebenso ist es viel leichter, seinem Gefallen Ausdruck zu verleihen.
So bekam ich die Erklärung, warum ich sieben Jahre länger leben werde als vorgesehen, wurde in der geschlossenen Gruppe „Geistheilung“ unfreiwillig dazugefügt oder lernte wertvolle Haushaltstipps kennen, etwa wie man mit Klobürste und Bohrmaschine kinderleicht gekochte Kartoffeln schälen kann. Auch spezielle Begabungen findet man: Einbeinige Tänzer, Frösche, die wie Menschen auf Parkbänken sitzen, und Autofahrer, die beim Anblick einer Spinne aus dem fahrenden Wagen springen, sind auf Facebook das Normalste der Welt.
Lustig war auch, wie naiv manche vom Flughafen aus ankündigten, dass sie sich jetzt für einige Wochen in den Urlaub oder zu Dienstreisen ins Ausland absetzten. Das lässt sich im Umkehrschluss so deuten: Bei mir ist keiner daheim. Vielleicht ein Grund, warum die Einbrecherzunft gerade boomende Zeiten erlebt.
Manche zum Naiven Neigenden haben mit Facebook aber auch einfach nur Pech gehabt. Einer postete mal freudestrahlend, dass er einen Marathonlauf erfolgreich absolviert hatte. Blöd war nur, dass er wegen eines gebrochenen Beines gerade krankgeschrieben war. Das kostete ihn, wie sich später herausstellte, den Job. Ja, Facebook kann auch zur Waffe gegen sich selbst werden.
Fazit: Die Realität spiegelt sich in Facebook oft ziemlich verzerrt wider. Das ist nicht schlimm, man muss es nur wissen. Und: Orthografie wird zum gelebten Fremdwort. Rechtschreibung und Satzzeichen spielen bei vielen keine Rolle mehr. Kurz und gut: Facebook ist einerseits eine interessante, andererseits eine wenig reflektierende Nachrichten- und Klatsch-Plattform – und es ist der heilige Gral des Banalen.
Ich habe dort übrigens niemanden näher kennengelernt, den ich nicht auch schon vorher kannte. Aber einige Freunde, vor allem die, die meine Gedichte mögen, habe ich auf eine abstrakte Weise lieb gewonnen. Auch Geburtstage sind auf Facebook jedes Mal ein Schauspiel. Im ersten Jahr gratulierten fast 400 Freunde, im zweiten Jahr waren es 600. Im ersten Jahr habe ich noch jedem persönlich gedankt, im zweiten tat ich das nicht mehr.
Meine Aktivitäten nach einem Jahr einzustellen, habe ich bislang nicht geschafft. Im Weg steht eine moralische Frage: Darf man knapp 5000 Freunde einfach so löschen? Ich tat es nicht – ob aus Menschlichkeit oder aus Gefallgründen, das weiß ich selbst nicht so genau. Aber, liebe Freunde: Ab jetzt wird Facebook massiv zurückgefahren. Ich möchte zurück in die Wirklichkeit. Schließlich war es schon eigenartig, als mir mein elfjähriger Sohn jüngst einen Selfie-Stick zum Geburtstag mit den Worten schenkte: „Das ist doch genau das Richtige für Dich!“
Was Facebook so erfolgreich macht und Kritiker bemängeln
Zweck: Facebook ist vor zwölf Jahren erfunden worden mit dem Ziel, das weltweit größte digitale Netzwerk für soziale Kontakte zu werden. So befindet sich unter dem Dach des US-Unternehmens die Internetplattform selbst, auf der man in offenen oder geschlossenen Gruppen chatten, Fotos, Videos und Nachrichten platzieren und mit anderen teilen kann. Außerdem schließt man dort virtuelle Freundschaften und bewertet die Einträge (Posts) von anderen.
Gründer: Erfinder und Chef ist Mark Zuckerberg. Er rief Facebook 2004 im Alter von erst 20 Jahren ins Leben. Heute soll er ein Vermögen von mehr als 35 Milliarden Dollar besitzen.
Konzern: Das Unternehmen mit seinen gut 12 500 Beschäftigten, das sich vor allem durch Werbeeinnahmen finanziert, besaß Ende 2015 einen Börsenwert von gut 300 Milliarden Dollar. Der Umsatz betrug im vergangenen Jahr 17,9 Milliarden Dollar, ein Plus von 44 Prozent.
Zum Unternehmen gehören auch die Video- und Foto-App Instagram und seit Februar 2014 der Kurznachrichtendienst WhatsApp. Nutzer: Facebook hat fast 1,6 Milliarden Nutzer weltweit, WhatsApp gut eine Milliarde. Kritik: Facebook wird immer wieder dafür kritisiert, nicht konsequent genug gegen Hasskommentare und deren Urheber vorzugehen. Ein weiterer Punkt: Der „Like“-Button ist nicht nur innerhalb des sozialen Netzwerks selbst zu finden, sondern auch auf Webseiten von Drittanbietern. Diese von Facebook bereitgestellten Buttons kritisieren Datenschützer, da sie Daten über das Surfverhalten der Nutzer an Facebook weiterleiten – auch wenn diese weder auf die Schaltflächen klicken noch bei Facebook registriert sind. Denn mit dem „Gefällt mir“-Button setzt Facebook sogenannte Cookies auf die Rechner der Seitenbesucher. Daten werden so automatisch an Facebook weitergegeben. AZ/ FOTO: DPA