Schlimm, ganz schlimm war dieses Eingesperrtsein, sagt Maria Kaiser. Dort war sie immer gestanden, erinnert sich die 87-Jährige und zeigt mit dem Finger auf den Platz vor dem bodentiefen Fenster in ihrem Zimmer. Von dort aus hat sie ihren geliebten Sohn Claus draußen am Zaun stehen sehen. Über Wochen waren während der Corona-Pandemie immer wieder nur über diese große Distanz hinweg Gespräche und Begegnungen erlaubt. Für die gepflegte Dame mit der feinen blau-weißen Bluse und den passenden Ohrringen, auf deren Bett die aufgeschlagene Schwabmünchner Allgemeine liegt, war die Pandemie eine harte Zeit. Erst im Oktober 2021 ist sie in die AWO-Senioreneinrichtung in Schwabmünchen gezogen. Zusammen mit ihrem Mann. Es ging im eigenen Haus nicht mehr, erzählt sie und senkt ihren Blick. Ihr Mann war gestürzt und hatte anschließend massive gesundheitliche Beeinträchtigungen. Er ist mittlerweile gestorben. Maria Kaiser selbst hat innerhalb kurzer Zeit zwei Schlaganfälle erlitten. Seitdem tut sie sich gerade mit dem Laufen schwer. Mitten in der Corona-Pandemie also musste das Ehepaar seine gewohnte Umgebung verlassen - kein leichter Schritt.
Zumal Pflegeheime zu Hotspots in der Corona-Pandemie wurden. Dies belegt der Pflegereport der Barmer. Stationär Pflegebedürftige erhielten demnach überproportional häufig eine Covid-Diagnose. Im April 2020 seien 13,3 Prozent der Pflegebedürftigen, die im Pflegeheim an Covid erkrankt sind, gestorben - im Dezember 2020 sogar 18,6 Prozent. Auch Pflegekräfte erkrankten nicht nur sehr häufig, sie litten auch massiv unter den erschwerten Arbeitsbedingungen. Und der Krankenstand beim Personal sei auch aktuell, wie aus Heimen zu hören ist, teils deutlich höher als vor Corona. Grund sei oft eine tiefe Erschöpfung.
Während der Corona-Pandemie sind viele Kontakte verloren gegangen
Wie also ist die aktuelle Lage in Altenheimen? Welche Lehren wurden aus der Corona-Pandemie gezogen? "Corona ist nicht vorbei", betont Dieter Egger, Vorstandsvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Schwaben, die 23 Senioreneinrichtungen in Schwaben betreibt. "Die Lage ist noch immer schwierig." Denn einerseits weiß man jetzt, wie schnell und verheerend ein Virus wüten kann. Und wie bedroht besonders betagte Menschen sind. Andererseits wurde nie deutlicher, wie wichtig Besuche, Veranstaltungen - also die Öffnung der Häuser - beziehungsweise wie krankmachend Isolation und Einsamkeit sind.
Doch die Heime nun wieder zu öffnen, das scheint oft leichter gesagt als getan. Dies wird im Gespräch mit Michael Zimmermann deutlich, dem Leiter des AWO-Seniorenheims in Schwabmünchen. Vieles, was den Bewohnern vor Corona Freude bereitet hat, könne nur mühsam wieder aufgebaut werden, "weil einfach Kontakte verloren gegangen sind, beispielsweise zu Musikvereinen". Zurückgezogen hätten sich leider auch viele Ehrenamtliche. Doch gerade sie seien in Heimen so wichtig, betont der 42-Jährige. Menschen also, die gerne den Seniorinnen und Senioren vorlesen, mit ihnen musizieren, spazieren gehen, einfach Zeit für sie haben.
"Aber auch viele Angehörige muss man ans Besuchen erst wieder gewöhnen", sagt Zimmermann und lächelt. Viele seien noch verunsichert, welche Schutzmaßnahmen weiter gelten. Dabei weiß man eigentlich sofort Bescheid, was gilt, zumindest wenn man das Schwabmünchner Heim betritt. Zwar fällt der erste Blick auf den hübschen Osterstrauß, doch schon im Eingangsbereich findet sich die Besucherinformation. Und die besagt, dass nur noch das Tragen einer FFP2-Maske verpflichtend ist.
Aber auch an diesem Nachmittag sind nur wenige Besucher zu sehen. Allerdings herrscht eine ganz andere Atmosphäre in dem Haus als in der Hochphase der Pandemie. Etwa im Dezember 2020, als wir schon einmal das Heim für eine Reportage besuchten. Die Angst war damals überall zu spüren. Die Gänge, die hellen, offenen und großzügigen Aufenthaltsbereiche, waren damals so gut wie menschenleer. Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner blieben in ihren Zimmern. Dort durften sie nur in Ausnahmefällen Besuch erhalten. Im Erdgeschoss konnten Bewohner ihre Besucher zwar empfangen, allerdings immer nur einen und nur nach Vorlage eines Tests und nachdem Fieber gemessen worden war. Und auch dann trennte eine Plexiglasscheibe Bewohner und Besucher - eine bedrückende Lage.
Chefarzt Prof. Dr. Gosch sagt: "Der erste Lockdown war völlig richtig."
Doch Claus Kaiser hat die Maßnahmen nachvollziehen können. Schweren Herzens zwar. Aber die Kritik, die noch heute an den Isolationsmaßnahmen geübt wird, kann der 61-jährge Optikermeister, der mehrmals in der Woche seine Mutter besucht, nicht verstehen. Viel wichtiger als Kritik an den Regeln von früher zu üben, ist aus seiner Sicht, jetzt wieder in die Heime zu gehen, die alten Menschen dort zu besuchen, ihnen das Gefühl zu geben, dass man für sie da ist, sie nicht vergessen hat. "Aus heutiger Sicht kann man leicht sagen, das war alles überzogen. Aber man darf doch nicht vergessen, wie viele Menschen damals gerade in den Heimen gestorben sind. Das war doch entsetzlich. Man wusste damals doch gar nichts über dieses neue Virus."
Und gerade weil man nichts über dieses neue Virus wusste, sagt auch Prof. Dr. Markus Gosch: "Der erste Lockdown war völlig richtig." Anders sieht er die Lage beim zweiten, langen Lockdown: "Hier wurde aus meiner Sicht übers Ziel hinausgeschossen", erklärt der Chefarzt am Klinikum Nürnberg, der im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie ist. Denn die Begleiterscheinungen der Isolation, wie etwa der fehlende Zugang zu Therapien, seien zu wenig berücksichtigt worden und haben gerade auch bei älteren Menschen viele gesundheitliche Schäden angerichtet.
Fragt man den Altersmediziner, welche Lehren man für künftige Pandemien gerade in Pflegeheimen nun ziehen kann, kommt eine ernüchternde Antwort: "Gelernt haben wir aus dieser Pandemie so gut wie nichts. Denn meines Erachtens war es der größte Fehler, die Pandemieüber Gesetze zu regeln." Etwa mit generellen Besuchsverboten. "Dadurch haben wir uns der Möglichkeit beraubt, die Effizienz der einzelnen Maßnahmen überhaupt überprüfen zu können." Hätte man den einzelnen Heimleitungen mehr Flexibilität zugestanden, hätte man beispielsweise in einem Heim ein Besuchsverbot aussprechen können, im anderen nicht, könnte man jetzt auch sagen, welche Maßnahmen wirklich effizient waren. "So wissen wir eigentlich nichts."
Für einen ganz großen Fehler hält es Gosch, zu glauben, dass Pflegeheime abgekapselte Bereiche sind und man die Bewohner einfach einsperren könne. Strenge Isolationsmaßnahmen könne man noch in Kliniken vertreten, da die Patientinnen und Patienten dort in der Regel nur eine überschaubare Zeit sind. "Aber in Pflegeheimen wohnen Menschen. Die kann man doch nicht einfach einsperren. Genau das ist aber geschehen." In der Altersmedizin sei es längst erwiesen, dass Isolation gerade alte Menschen krank mache. Doch Altersmediziner waren bei der Bewältigung der Pandemie kaum eingebunden, bedauert Gosch, obwohl alte Menschen mit die größte Risikogruppe darstellten.
Und das Risiko gerade für ältere Menschen, an Corona schwerer zu erkranken, bleibt. So geht auch Susanne Greger nicht davon aus, dass Corona vorbei ist. Die Leiterin des Eigenbetriebs Altenhilfe der Stadt Augsburg mit seinen fünf Senioreneinrichtungen sagt aber auch, dass man nun schneller als zuvor wichtige und wirksame Schutzmaßnahmen in den Senioreneinrichtungen einleiten könne. Was ihr vor allem wichtig wäre, ist, "dass eine Impfempfehlung analog zur Grippeimpfung kommt und wir dann auf die empfohlenen Impfzyklen bei vulnerablen Personengruppen organisatorisch und mit Vorbereitungen gezielt reagieren können".
Im Pflegeheim Schwabmünchen hoffen alle, dass die schwerste Zeit der Corona-Pandemie vorbei ist
Doch vor allem hoffen alle, dass zumindest die schwerste Zeit vorbei ist. "Und wenn wir etwas aus dieser Pandemie gelernt haben, dann doch vor allem, wie sehr der Mensch ein soziales Wesen ist, wie sehr wir Menschlichkeit brauchen", betont Brigitte Protschka, die Präsidentin der AWOSchwaben. Für diese Menschlichkeit sorgt an diesem Nachmittag im ersten Stock des Schwabmünchner Seniorenheims auch Karin Mayer. Seit 42 Jahren arbeitet sie in dem Haus, und obwohl sie mit ihren 73 Jahren längst aufhören könnte, ist sie noch immer sichtlich mit großer Hingabe als Betreuungsassistentin aktiv. Sie will sich vor allem Zeit nehmen für die Seniorinnen und Senioren. Und so steht sie plaudernd an dem Tisch, an den sich mittlerweile Maria Kaiser zum Kaffee trinken und Kuchen essen gesetzt hat.
Neben Maria Kaiser sitzt Maria Westner. Die freundliche Dame ist ihre Freundin. Hier im Heim haben sie sich kennengelernt, erklären sie und beginnen zu erzählen, was sie alles gern machen: Maria Westner war leidenschaftliche Klavierspielerin, Maria Kaiser singt gerne. Dass man nun wieder miteinander singen kann, gerade das genießen sie sehr. Vor allem aber freuen sich beide über Besuche, sagen sie und Maria Kaiser schaut zu ihrem Sohn Claus, der sich auch zu der Damenrunde gesellt hat. Über seine Besuche freut sich Maria Kaiser sichtlich ganz besonders.