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München
Aufarbeitung der Pandemie: "Natürlich wurden Fehler gemacht"
Vor vier Jahren ging Deutschland in den ersten Lockdown. Der Ruf nach Aufarbeitung ist groß. Wie Menschen, die eine entscheidende Rolle spielten, zurückblicken und was anders hätte laufen müssen.
Coronavirus - Corona-Kontrollen.jpeg       -  Die Einhaltung der Corona-Regeln wurde von der Polizei kontrolliert. Heute sieht man viele Maßnahmen in einem anderen Licht.
Foto: Robert Michael, dpa | Die Einhaltung der Corona-Regeln wurde von der Polizei kontrolliert. Heute sieht man viele Maßnahmen in einem anderen Licht.
Stephanie Sartor
 |  aktualisiert: 01.04.2024 08:18 Uhr

Haus 10 ist ein unscheinbarer Neubau, eierschalenweiß, viele Fenster, davor Bäume, Rasen, ein bisschen Frühling. In vielen Jahren wird das Gebäude vielleicht einmal in den Geschichtsbüchern stehen. Denn in Haus 10 der München Klinik Schwabing wurden die ersten deutschen Coronapatienten behandelt, im ersten Stock, in den Zimmern, die kleine Balkone haben. Damals haben die Klinikmitarbeitenden einen Fernseher hergetragen. Damit einer der Männer, der drei Wochen von der Außenwelt isoliert war, wenigstens die Champions-League schauen konnte. Eine nette Anekdote. Wie schlimm das alles noch werden würde, wusste damals niemand. 

Von Haus 10, wo die Abteilung für Infektiologie untergebracht ist, sind es nur wenige Schritte bis zum Altbau der Klinik. Im dritten Stock, in einem hellen Büro mit weißen Sprossenfenstern und schwarzen Sesseln, sitzt Clemens Wendtner – der Mann, der mit seinem Team damals die Coronapatienten behandelt hat. Vier Jahre ist das her. „Wir haben so vieles nicht gewusst. Und natürlich wurden Fehler gemacht“, sagt Wendtner, kurze braune Haare, dunkle Cordhose, weißes Hemd, an diesem warmen März-Mittag und nimmt auf einem der Sessel Platz. Zeit, zurückzuschauen.

Bayern verhängt als erstes Bundesland Ausgangsbeschränkungen

Vier Jahre also. Damals bricht die Pandemie wie ein Tsunami über die Welt herein, die Infektionszahlen türmen sich zu einer gewaltigen Welle auf. Als erstes Bundesland verhängt Bayern am 20. März eine Ausgangsbeschränkung, der bundesweite Lockdown mit einem Kontaktverbot folgt zwei Tage später. Es sollte nicht der letzte gewesen sein. Immer wieder wird in den folgenden Monaten versucht, das Virus in Schach zu halten. Test- und Maskenpflicht, geschlossene Schulen, Geschäfte, Restaurants, leere Straßen, verwaiste Innenstädte, Altenheimbewohner, die ihren Familienangehörigen nurmehr durch Glasscheiben zuwinken konnten – das alles ist die neue Realität.

Heute fragt man sich: War das alles richtig so? Was hätte anders laufen müssen? Und gibt es überhaupt den Willen, sich kritischen Fragen zu stellen? 

Corona-Experte Wendtner: "Der erste Lockdown war gerechtfertigt"

Aus dem Büro von Clemens Wendtner blickt man auf viel Grün. Die Fenster sind geöffnet, den Lärm der Stadt hört man nicht. Der Mediziner schlägt die Beine übereinander, lehnt sich zurück, bevor er beginnt, über diesen März vor vier Jahren zu sprechen. „Der erste Lockdown war gerechtfertigt“, sagt er dann. „Das Infektionsgeschehen wurde dadurch beruhigt. Aber natürlich kann man über die Ausarbeitung streiten.“ Wendtner war damals Chefarzt der Infektiologie, heute ist er Senior Consultant der Klinik in Schwabing. In der Pandemie hat er sowohl die bayerische Staatsregierung als auch die Bundesregierung beraten. Bevor das Land quasi dicht gemacht wurde, saß Wendtner mit Ministerpräsident Markus Söder zusammen, bereits seit Januar hatte es angesichts steigender Infektionszahlen immer wieder Gespräche gegeben. Was Wendtner mit einer strittigen Lockdown-Ausgestaltung beispielsweise meint: „Dass man im englischen Garten irgendwann nicht mal mehr zu zweit auf einer Parkbank sitzen durfte. Das war natürlich überzogen.“ 

Viele Entscheidungen seien damals in einer Art Wissensvakuum getroffen worden. „Wir hatten zum Beispiel keine Erkenntnisse darüber, welche Menschen eigentlich schwer erkranken und dass es eine genetische Disposition gibt, die das Risiko beeinflusst.“ Man habe auch nicht verstanden, wie genau sich das Virus verbreitet. „In China haben sie am Anfang den Asphalt desinfiziert“, sagt der Mediziner und schüttelt den Kopf. „Erst später haben wir herausgefunden, dass die Übertragung über die Luft stattfindet.“ In dieser unübersichtlichen Gemengelage sei die Politik unter Starkstrom gestanden. „Es mussten ja Entscheidungen getroffen werden. Auch solche, die im Nachhinein als unklug gelten.“

Holetschek: "Nicht handeln wäre keine Option gewesen"

Rechtlich dürfe man die Coronamaßnahmen immer nur auf Grundlage des Wissens beurteilen, das staatliche Instanzen damals, etwa im Frühling oder Sommer 2020, hatten, sagt Ex-Verfassungsrichter Udo di Fabio, der dem Coronaexpertenrat von Nordrhein-Westfalen angehörte. „Dass wir jetzt einiges aufarbeiten für die Zukunft, ist richtig. Aber auch wenn wir Fehler feststellen, macht das nicht automatisch die damaligen Maßnahmen rechtswidrig oder zum politischen Skandal“, sagt di Fabio. „Mir gingen beispielsweise die nächtlichen Ausgangssperren und die zeitliche Ausdehnung von Schulschließungen auch zu weit. Teilweise haben hier aber auch Gerichte interveniert, etwa indem sie Ausgangssperren aufgehoben haben.“ 

Einer, der in der Schaltzentrale der Pandemie-Politik saß, ist Klaus Holetschek, heute CSU-Fraktionsvorsitzender, damals bayerischer Gesundheitsminister. Als Holetschek im Januar 2021 ins Amt kam, hatte das Land das erste Coronajahr bereits hinter sich. Die Lockdowns verteidigt der CSU-Politiker auch im Rückblick. „In den verschiedenen Phasen der Pandemie ging es um Unterbrechungen der Virusverbreitung. Dafür war der Lockdown da und auch die Ausgangsbeschränkungen, die unterbinden sollten, dass man sich trifft und gegenseitig ansteckt.“ In der Rückschau sei es leicht, die Dinge anders einzuschätzen. „Es ist aber wichtig zu unterscheiden, in welcher Phase der Pandemie wir welches Ziel verfolgt haben“, sagt Holetschek. Am Anfang sei es darum gegangen, die Infektionen einzudämmen. Später dann darum, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und vulnerable Gruppen zu schützen. „Letztlich waren alle Maßnahmen getragen von dem Ziel, Menschenleben zu retten und zu schützen. Nicht handeln wäre keine Option gewesen.“ Man müsse die getroffenen Entscheidungen auch in einen internationalen Vergleich setzen. „Es gab auch in anderen Ländern Einschränkungen und Ausgangssperren, die teilweise sogar härter waren als bei uns."

Abrechnung von Coronatests: Milliarden Euro ohne Prüfung ausgezahlt?

Viele Dinge seien in seinen Augen gut gelaufen, fährt der CSU-Politiker fort. Etwa der Aufbau der Impfzentren in Rekordzeit, die zügig hochgezogenen Testzentren und die massenhafte Verfügbarkeit von Schnelltests. Aber es passierten eben auch Fehler. Fehler, die vermutlich viel Geld gekostet haben. So wirft der Bundesrechnungshof den Pflegekassen der sozialen Pflegeversicherung schwere Versäumnisse bei der Abrechnung von Coronatests vor. Milliarden Euro seien ohne Prüfung ausgezahlt worden, heißt es in einem Bericht, der unserer Redaktion vorliegt. Zum Hintergrund: In Pflegeeinrichtungen mussten sich Besucher, Bewohner und Personal während der Pandemie testen lassen, die Heime konnten sich diese Kosten erstatten lassen. Das Erstattungsverfahren sei aber unzureichend geregelt und zudem missbrauchsanfällig gewesen, bemängelt der Bundesrechnungshof. Denn die Pflegekassen seien nicht verpflichtet gewesen, Belege anzufordern. 

Martin Schirdewan, der Vorsitzende der Linken in Deutschland, spricht gegenüber unserer Redaktion noch von einer Reihe weiterer Sollbruchstellen. „Während manche Unternehmer Milliarden machten, konnten Notfallkrankenhäuser vielerorts nicht betrieben werden, weil es nicht genügend Personal gab“, sagt der Politiker. Da Schutzkleidung fehlte, hätten sich zudem Pflegekräfte vermehrt infiziert. „Und während Schulen, Sportstätten und Parks geschlossen wurden, musste in Schlachthäusern und Warenlagern oft ohne den nötigen Schutz weitergearbeitet werden“, sagt Schirdewan und fügt noch hinzu: „Während Millionen Menschen in Kurzarbeit mussten, wurden Konzerne wie die Lufthansa mit Milliarden gerettet.“ 

Virologe Streeck: "Eine Aufarbeitung hat nicht stattgefunden"

Immer wieder muss sich die Politik den Vorwurf gefallen lassen, keine grundlegende Aufarbeitung der Pandemie zu leisten. Einer, der das kritisiert, ist Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, der vor Kurzem angekündigt hat, bei der nächsten Bundestagswahl für die CDU kandidieren zu wollen. „Eine Aufarbeitung hat nicht stattgefunden. Ich habe immer wieder betont, wie wichtig ich es finden würde, dass wir Lehren ziehen, dass wir verstehen, was gut gelaufen ist und was schlecht“, sagt Streeck. Es gehe dabei gar nicht darum, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, der möglicherweise eine falsche Entscheidung getroffen habe. „Sondern darum zu lernen, damit wir in der Zukunft krisensicherer sind. Aber mein Eindruck ist, dass das politische Interesse an einer Aufarbeitung bei den meisten Parteien relativ gering ist.“ Neben der FDP würde derzeit kaum jemand danach rufen, sagt Streeck. 

Der Virologe arbeitet derzeit an einem Buch über die Pandemie, es trägt den Titel „Nachbeben“. Eine Bilanz. Und eben eine Aufarbeitung. „Der größte Fehler seit Beginn der Pandemie war, dass wir es nicht geschafft haben, den Facettenreichtum der notwendigen Expertise darzustellen und zu kommunizieren.“ Was Streeck damit meint: Von Anfang an hätten deutlich mehr Soziologen, Psychologen, Wirtschaftsexperten, Juristen, Hygieniker, vielleicht sogar Philosophen beraten müssen. „Die Politik hat sich viel zu oft hinter der Wissenschaft versteckt.“ Dabei hätte, findet Streeck, viel öfter durch das Heranziehen unterschiedlicher Expertisen abgewogen werden müssen, um dann eine politische Entscheidung zu treffen. 

Beim Thema Impfen bröckelte das Vertrauen

Während der Pandemie hat sich Streeck oft mit Meinungen zu Wort gemeldet, mit denen er polarisierte. Er war früh einer derjenigen, die darauf hinwiesen, dass die Menschen lernen müssten, mit dem Virus zu leben. „Damals bin ich mit diesem Satz angeeckt, heute ist das eine Grunderkenntnis, die niemand mehr in Zweifel zieht“, sagt Streeck. „Ich glaube, dass wir zu lange geglaubt haben, dass wir das Virus doch noch loswerden. Deswegen wurde fast unversöhnlich danach gerufen, Grundrechte einzuschränken, damit das Virus sich nicht ausbreiten kann. Andere Meinungen wurden da fast ideologisch abgelehnt, auch von vielen Medien. Debatten wurden gar nicht geführt.“ So sei viel Vertrauen verloren gegangen. 

Auch beim Thema Impfen bröckelte bei vielen Menschen das Vertrauen. Beim Präparat von Astra Zeneca gab es Fälle von Sinusthrombosen, junge Frauen durften mit dem Mittel nicht mehr geimpft werden. Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing erinnert sich noch gut an das Durcheinander. „Die Stiko war da, das muss man ehrlich sagen, überfordert“, sagt Wendtner. Es habe in der Tat, räumt der Mediziner ein, ein erhöhtes Risiko einer Sinusthrombose gegeben. „Aber dieses Risiko lag bei 1 zu 500.000. Das ist, als würde man zwei Mal im Jahr vom Blitz getroffen werden.“ Wahrscheinlich habe die Wissenschaft zu wenig erklärt, oder die Dinge zu kompliziert dargestellt, sagt Wendtner. 

Wendtner hatte sich für eine Impfpflicht ausgesprochen

Durch die Fenster der Klinik dringt Frühlingslicht, der Himmel ist kornblumenblau, draußen sitzen die Menschen auf Bänken. Wendtner spricht nun seit mehr als einer Stunde über die Pandemie, über Entscheidungen und Debatten, die damals geführt wurden. Besonders umstritten war etwa das Thema Impfpflicht – Wendtner hatte sich dafür ausgesprochen. „Ich weiß, dass ich da sehr streng war. Aber als Arzt sage ich: Vielleicht hätten wir durch eine Impfpflicht noch mehr Menschen retten können. Und vielleicht hätten wir heute dann auch nicht so viele Long-Covid-Fälle.“ 

Grundsätzlich sei in der Kommunikation beim Thema Impfen vieles schiefgelaufen, sagt Wendtner. „Ich glaube, wir haben die große positive Botschaft zu wenig betont. Nämlich, dass wir es geschafft haben, in Rekordzeit einen Impfstoff gegen ein bis dato unbekanntes Virus zu entwickeln.“ Gleichzeitig hätte man nie sagen dürfen, dass eine Impfung nebenwirkungsfrei ist – Karl Lauterbach hatte sich früh so geäußert, noch bevor er Bundesgesundheitsminister wurde. „Man hätte darauf hinweisen müssen, dass es immer ein Restrisiko gibt. Es war einfach eine Misskommunikation auf verschiedenen Ebenen“, sagt Wendtner und ergänzt: „Da müssen wir besser werden in der nächsten Pandemie. Corona war eine gute Generalprobe.“

 
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