Das Startchancen-Programm gilt als das größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik. Und es befasst sich auch mit dem größten und langfristigsten Problem des hiesigen Bildungssystems: Chancengerechtigkeit. Wer in eine sozial benachteiligte Familie hineingeboren wird, hat schlechtere Chancen, in der Schule erfolgreich zu sein. Armut, Migrationserfahrung, bildungsferne Eltern, all dies kann sich negativ auswirken. Deshalb bekommen in Bayern ab August hundert Grund- und Mittelschulen eine Spezialförderung vom Staat, deutschlandweit sind es über 2000. Das große Ziel des Startchancen-Programms: die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die nicht einmal Basiskompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen, zu halbieren.
Mit einem eigens entwickelten Sozialindex misst jedes Bundesland, wo besonders viel zusammenkommt, was das Lernen erschwert. In Bayern umfasst der Index die Zahl der ökonomisch armen Kinder an einer Schule, dazu den Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund und nicht-deutscher Familiensprache. Auch auf die Eltern wird geschaut: Wie viele sind Akademikerinnen und Akademiker? Wie viele leben über der Beitragsbemessungsgrenze der Sozialversicherung? Auf diese Weise kann man die Sozialstruktur an einer Schule ablesen.
Im reichen München stehen nur drei geförderte Schulen, in Nürnberg sind es 19
Zeichnet man die hundert Schulen in eine Landkarte ein, zeigt sich: In Nürnberg und Augsburg ballen sich die sozial benachteiligten Lagen, 29 der hundert Einrichtungen liegen in der zweit- und drittgrößten Stadt Bayerns. Zum Vergleich: Im reichen München, weit größer als die beiden Städte zusammen, weisen nur drei von mehr als 70 Grund- und Mittelschulen einen entsprechend niedrigen Sozialindex auf. Acht Startchancen-Schulen stehen im unterfränkischen Schweinfurt mit einer der höchsten Arbeitslosenquoten Bayerns, sieben Schulen sind in Hof, wo einer Bertelsmann-Studie zufolge im Jahr 2021 jeder fünfte Jugendliche von Grundsicherung abhängig war. Bayerns Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) legt aber Wert darauf, dass der Sozialindex keine Aussagen über Regionen oder Städte als Ganzes erlaubt. Er lasse nur Aussagen über einzelne Schulen zu, erklärt Stolz auf Anfrage unserer Redaktion. Sogar Nachbarschulen weichen ihr zufolge oft deutlich voneinander ab.
Der Bund stellt für das Startchancen-Programm bis zu einer Milliarde Euro jährlich zur Verfügung. Die Länder beteiligen sich mit derselben Summe. Insgesamt werden 20 Milliarden Euro über zehn Jahre investiert. Die einzelne Schule erhält vom Staat bis zu 164.000 Euro pro Jahr. Das Geld soll die Lernbedingungen für die Schülerinnen und Schüler verbessern und folglich: die Chancengerechtigkeit erhöhen.
Schulen sollen moderne Lernlandschaften werden
Das frische Geld können die Schulen zum Beispiel in pädagogische Fachkräfte investieren, die Kinder mit Hilfebedarf besonders unterstützen. Auch Dolmetscher oder Unterrichtsmaterialien können sie beschaffen, etwa digitale Hilfsmittel, die auf die Bedürfnisse der Schüler zugeschnitten sind. Über die zehn Jahre Programmlaufzeit hat der Schulträger zudem ein Budget von insgesamt 830.000 Euro, um Lernumgebungen zu schaffen, die "innovative und inklusive Bildungsansätze unterstützen", wie es in der Programmbeschreibung heißt.
In den nächsten Jahren sollen 480 weitere bayerische Schulen Geld aus dem Startchancen-Programm bekommen. Kultusministerin Stolz ruft dazu auf, die Mittel so einzusetzen, dass "vor allem die Schülerinnen und Schüler davon profitieren, die es besonders benötigen". Die Vergabe der Mittel werde im Rahmen der jährlichen Berichte an den Bund erhoben. Stolz begrüßt das Programm, kritisiert aber ein hohes Maß an Bürokratie. Sie selbst hatte jüngst eine "Entbürokratisierungskampagne" gestartet, um die Schulleitungen von zeitfressenden Dokumentationspflichten zu entlasten.
Bildungsforscherinnen und -forscher sehen das Startchancen-Programm zwiegespalten. Einer der wichtigsten Experten dafür ist Marcel Helbig, Professor am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. Ihm zufolge kann es verschiedene Folgen haben, wenn an einer Schule plötzlich das "Startchancen"-Emblem prangt. Das Programm deklariere 4000 Einrichtungen bundesweit "als die Schulen mit dem höchsten Anteil von Kindern aus armen Verhältnissen und mit Migrationshintergrund", sagte Helbig kürzlich in einem Interview. Eine mögliche Folge wäre, "dass dieses Label zu einer weiteren Abgrenzung der Schulen führt", dass also betuchtere Eltern ihre Kinder nicht mehr dorthin schicken werden. Aber auch andersherum kann Helbig es sich vorstellen: "dass Eltern diese Schulen bevorzugt für den Nachwuchs auswählen, weil sie um die finanzielle Unterstützung für diese Schulen wissen".