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Augsburg
Höchstes Gericht urteilt über bayerische Zeugnisse: Was sich jetzt ändert
Künftig muss im Zeugnis vermerkt werden, wenn Schülerinnen und Schülern Prüfungen erleichtert wurden – etwa weil sie an Legasthenie leiden. Was heißt das und ist diese Praxis diskriminierend?
ADHS oder Legasthenie? Nachhilfekosten absetzbar.jpeg       -  Bei rund 2,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Bayern ist eine diagnostizierte Rechtschreibstörung, eine Lesestörung oder beides zusammen bekannt.
Foto: Silvia Marks, dpa | Bei rund 2,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Bayern ist eine diagnostizierte Rechtschreibstörung, eine Lesestörung oder beides zusammen bekannt.
Sarah Ritschel
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:48 Uhr

Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit bayerischen Zeugnissen befasst. Worum ging es?

Drei Männer, die 2010 ein bayerisches Abitur abgelegt hatten, klagten, weil ihre Legasthenie indirekt im Zeugnis vermerkt war. Darin stand nämlich, dass Rechtschreibleistungen bei ihrer Prüfung nicht berücksichtigt wurden. Die Männer fühlten sich diskriminiert. Das höchste deutsche Gericht gibt ihnen in ihrem konkreten Fall recht: Der Satz muss gestrichen werden. Das heißt aber nicht, dass solche Vermerke künftig verboten sind – im Gegenteil. Vielmehr urteilten die Richterinnen und Richter, dass Zeugnisvermerke dieser Art aus Gründen der Transparenz sogar notwendig sind. Aber nur, wenn sie für alle Schülerinnen und Schüler mit Bewertungsvorteilen gelten und nicht nur auf Legasthenikerinnen und Legastheniker begrenzt sind – wie es damals in Bayern gewesen war.

Was bedeutet das Urteil für Schülerinnen und Schüler?

Damit Legastheniker nicht gegenüber Menschen mit anderen Behinderungen benachteiligt werden, müssen laut Urteil alle Schülerinnen und Schüler einen Vermerk ins Zeugnis bekommen, bei denen eine Prüfungsleistung nicht bewertet wurde. Das können auch hörgeschädigte, taube und blinde Schülerinnen und Schüler, Jugendliche mit Autismus oder Sprachstörungen sein. In Bayern sind Lehrkräfte seit 2016 bereits verpflichtet, bei jedem Schüler oder jeder Schülerin einen Vermerk ins Zeugnis zu schreiben, bei dem Prüfungsleistungen nicht bewertet wurden – egal unter welcher Einschränkung er oder sie leidet. Wie oft das vorkommt, dazu führt das Kultusministerium keine Statistik. Im Freistaat dürfte das Urteil jedenfalls nicht allzu viel ändern. In anderen Bundesländern schon. In Hamburg etwa steht bislang nicht im Zeugnis, ob ein Schüler oder eine Schülerin eine Behinderung hat.

Welche Prüfungserleichterungen gibt es?

Es gibt drei Möglichkeiten, Prüfungen zu erleichtern: individuelle Unterstützung, Nachteilsausgleich und Notenschutz. Unter individueller Unterstützung versteht man zum Beispiel, besondere Arbeitsmittel zuzulassen und Arbeitsanweisungen den Betroffenen individuell zu erklären. Nachteilsausgleich meint etwa die Verlängerung der Arbeitszeit, Extrapausen oder die Erlaubnis, dass Prüflinge eine Begleitperson mitbringen. Die Leistung an sich wird aber bei diesen Maßnahmen genauso streng bewertet wie bei anderen Schülerinnen und Schülern auch. Deshalb müssen solche Hilfeleistungen auch nicht im Zeugnis dokumentiert werden. Anders ist es mit dem Notenschutz. Er muss mit einem Vermerk hervorgehoben werden.

Was ist der Notenschutz?

Darunter versteht man die Praxis, Teile einer Prüfung nicht zu bewerten, wenn ein Schüler oder eine Schülerin sie wegen seiner/ihrer Einschränkung schlicht nicht richtig machen kann. Bei Schülern mit Hörproblemen kann auf Prüfungen zum Hörverstehen verzichtet werden. Schülerinnen und Schüler mit Sprachstörung müssen nicht unbedingt mündliche Vorträge halten. Jugendliche mit Lesestörung brauchen nicht im Vorlesen bewertet zu werden, jene mit Rechtschreibstörung nicht in Orthografie. Außerdem können Lehrkräfte bei ihnen im Unterricht mündliche Leistungen stärker gewichten. 

Werden Menschen mit Behinderung durch das Urteil im Job benachteiligt?

Manche Betroffene befürchten genau das. Zwar soll der Grund für die Erleichterungen auch künftig nicht im Zeugnis stehen. Viele Betroffene haben aber Angst, dass allein der Vermerk schon ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt schmälert und sie deswegen gar nicht erst zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden. Melanie Weigl, Teamleiterin für Berufliche Rehabilitation und Teilhabe an der Agentur für Arbeit in Augsburg, kann am Beispiel Legasthenie aus der Praxis berichten. "Menschen mit Lese- und Rechtschreibstörung oder Rechenstörung stehen nicht nur in Schule und Ausbildung vor besonderen Herausforderungen", sagt sie. "Manche Betroffene tendieren dazu, ihre Beeinträchtigung weitestgehend zu verheimlichen." Natürlich würde ein Zeugnisvermerk dieses Ansinnen verhindern. "Ein offener Umgang damit kann jedoch hilfreich sein, weil es dann auch leichter fällt, andere um Unterstützung zu bitten", sagt die Spezialistin. Und natürlich komme es auf den Einzelfall und die Berufswahl an. "Bei einem Handwerker ist die Beeinträchtigung sicherlich weniger problematisch als zum Beispiel in einer kaufmännischen oder akademischen Tätigkeit."

Gibt es wissenschaftliche Untersuchungen zu den Arbeitsmarktchancen von Menschen mit Behinderung?

Keine ausführlichen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg hat im Jahr 2020 Betriebe gefragt, warum sie nicht genug Menschen mit Behinderung beschäftigen. Dafür ist in Deutschland sogar eine Strafe fällig. 18 Prozent der Betriebe, die die Abgabe zahlen mussten, gaben als Grund eine potenziell eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Menschen mit Behinderungen an. Allerdings bezog sich die Umfrage ausschließlich auf die Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen.

 
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