
Markus Söder ist mit der Seilbahn hochgeschwebt zum Mauerrest bei Mutianyu, dann mehrere Treppen gestiegen, jetzt steht er, endlich, auf der Chinesischen Mauer und bringt sich in Positur. Die Kameras surren und klicken, Söders Blick schweift über die hügelige Landschaft im Norden Pekings.
Dumm nur, dass dichter Nebel die Sicht versperrt.
Söder, so kann man das sagen, ist an diesem Mittwochmorgen im Norden Chinas nicht ganz zufrieden. Das Wetter war nicht auf Söder eingestellt. Es ist unangenehm kalt, kurz tröpfelt es sogar, wie gut, dass sich ein Botschaftsmitarbeiter findet, der ihm eine Wollmütze leiht. Chinesische Touristen drängen sich um Bayerns Regierungschef. "Sind Sie Herr Söder?", fragt plötzlich jemand auf Deutsch. Ein Jugendlicher aus Baden-Württemberg. Immerhin, das mit den Selfies klappt.
Ein ganzer Kerl ist Markus Söder – aber was will er noch erreichen?
Nur, wer die Mauer schon mal erklommen hat, ist ein ganzer Kerl, so sagen die Chinesen. Ein ganzer Kerl ist Söder also, das wäre an diesem Mittwochvormittag nun geklärt. Die Frage ist nur, was dieser Kerl noch erreichen will? Wer Söder in China begleitet, erlebt einen rastlosen Reisenden, einen, der von Termin zu Termin hastet, von Foto zu Foto, einen, der sagt, "Bayern ist meine Weltkarte" und gleichzeitig zeigen will, dass er auch auf dem feinen Parkett der Außenpolitik eine ordentliche Figur abgibt. Israel, Schweden, Serbien und jetzt China. Was ist Söders nächste Stufe?
Am Dienstagnachmittag stapft Bayerns Regierungschef durch die Verbotene Stadt, den majestätischen Palast einstiger Kaiser, ein kundiger Reiseführer vom deutschen archäologischen Institut ist zur Stelle, um ihn durch das Dickicht der chinesischen Geschichte zu lotsen. Er lenkt Söders Blick auf zwei Löwenstatuen, bevor es zur Halle der höchsten Harmonie geht. "Die Löwen sollen Feinde abhalten", sagt der China-Experte. "Feinde", sagt Söder, und stößt dann unvermittelt hervor: "Berlin". Er stapft weiter, der China-Fachmann hat Mühe, Schritt zu halten, zu melden hat er ohnehin nichts mehr, denn jetzt doziert der Ministerpräsident – und zwar nicht über die Ming- und Qing-Dynastien, sondern zur deutschen Politik im Hier und Jetzt. "Wenn wir nicht so viel zahlen müssten, der Länderfinanzausgleich! Wer Party macht, schön, aber der soll auch zahlen!" Söder ist mehr als 7000 Kilometer von Berlin entfernt, doch erst kurz vor dem wohl bedeutendsten Gebäude in der jahrtausendealten chinesischen Geschichte stoppt er seine Suada gegen die Geldverprasser in der Hauptstadt – eine Traube Touristen versperrt den Eingang.
Söders Karriere ist in eine Art Sackgasse gelangt, jetzt, wo sein siebtes Jahr als Ministerpräsident beginnt. Noch vor wenigen Jahren hat er alles darangesetzt, Seehofer diesen "schönsten Job der Welt" mit aller Gewalt zu entreißen. Heute scheint er seiner manchmal fast überdrüssig zu sein. Selbst die gewöhnlich zurückhaltende Zeit aus dem fernen Hamburg monierte zuletzt, Söders Scherze beim Aschermittwoch seien blass geblieben. "Der Mann, der normalerweise leichtfüßig durch Pointen dribbelt, schleppte sich nun von Witzchen zu Witzchen. Nach etwas mehr als 60 Minuten blieb so vor allem eine Frage: Ist hier jemand etwa gelangweilt von sich selbst?"
Ob eine Kanzlerkandidatur einen Ausweg bietet, ist eher unwahrscheinlich
Seit März 2018 ist Söder jetzt Ministerpräsident, 2028, bei der nächsten Landtagswahl, wird er das zehn Jahre gemacht haben und über 60 Jahre alt sein. Und dann?
Zweimal hat er die CSU mit viel Fleiß in eine Landtagswahl geführt, zweimal sprangen am Ende magere 37 Prozent dabei heraus, von der völlig vergeigten Bundestagswahl 2021 ganz zu schweigen. Ergebnisse, die nicht reichen für einen Platz am Firmament der CSU-Größen.
Ob eine Kanzlerkandidatur einen Ausweg bietet, eine neue Aufgabe, einen neuen Kick, das ist aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich. CDU-Chef Friedrich Merz strahlt nach einer Schwächephase im vergangenen Sommer nun mit jeder Pore aus, dass er will, und mit Hendrik Wüst gäbe es sogar einen zweiten CDU-Mann, der einspringen könnte – wenig wahrscheinlich, dass Söder zum Zug kommen könnte.
Oder? Söder hat die Umfragen, wonach die Menschen ihn weit lieber als Unionskanzlerkandidaten hätten als die beiden anderen, natürlich genau wahrgenommen. Dazu kommt, dass die CSU in Umfragen derzeit wieder deutlich vor der CDU liegt und bei der Europawahl trotz AfD und Co. überraschend stark abschneiden könnte. Während Merz im Herbst schwierige Wahlergebnisse im Osten Deutschlands wird erklären müssen.
Söder weiß schon ganz genau, welche Fragen er Merz dann stellen wird. Warum der CDU-Chef vor Kurzem die Möglichkeit einer Koalition mit den Grünen ins Spiel gebracht hat, ist den CSU-Leuten in München beispielsweise völlig schleierhaft. Ausgerechnet mit den Grünen, die das eigene konservative Publikum nachhaltig ablehne.
Stattdessen darf sich Söder mit Hubert Aiwanger herumschlagen
Auch jene, die Söder fast täglich sehen, stellen diese Mischung aus Rastlosigkeit und Unlust bei ihrem Chef fest. Sie machen dafür allerdings eher den Frust über die sich trotz aller Kabale zäh ans Ende der Legislatur schleppenden Ampelkoalition dafür verantwortlich als die Sorge über mangelnde Karriereoptionen. Womöglich ist am Ende beides das Gleiche? "Ihn nervt, dass nichts vorangeht", sagt einer, der in Söders Kabinett sitzt. Das Land stehe vor großen Problemen, jeder sehe, dass die Ampel den Problemen nicht gewachsen ist, so der Gewährsmann. "Aber wir können hier in Bayern kaum etwas machen."
Stattdessen darf sich Söder mit Hubert Aiwanger herumschlagen, der Freie-Wähler-Chef ist auch in China Söders ständiger Begleiter, obwohl er überhaupt nicht mit angereist ist. Ein wenig liegt das an den Journalisten, die Söder auch in China an jeder Ecke mit einer Anspielung auf Aiwanger ("Ai Wang Wang", oder, bei der Panda-Aufzuchtstation, "Aiwang Bär") zu ködern versuchen. Andererseits braucht es zum Ködern meist nicht viel.
Am ersten Abend in Chengdu gibt der Generalkonsul einen Ausblick auf die anstehenden Besuche bei den Pandas und beim Wuhou-Schrein, der "Walhalla von Sichuan", wie der Diplomat die Tempelanlage für die bayerischen Gäste herkunftsgerecht einordnet. Man speist im Shang Palace, später reicht Söder in der Bar im 36. Stock einen Teller knusprig geröstete Entenzungen herum, ohne freilich selbst davon zu naschen. "Wenn die Zimmer nicht passen oder es sonst Beschwerden gibt", sagt der Konsul mit einem Lächeln, "dann gehen Sie zu meinem Stellvertreter." Und was ist, wenn der Stellvertreter einen Bruder hat?, ertönt es von Söders Tisch. Gelächter.
Von Söders Projekt, einer Bayern-Koalition mit Aiwanger als strahlendem Gegenentwurf zur Ampel in Berlin, ist wenig geblieben. Selbst in China verfolgt seine Entourage Aiwangers Aktivitäten in der Heimat mit höchstem Misstrauen. Dass Bayerns Vize-Premier zuletzt gleich mehrere Stunden bei einer Rundfahrt durch vom Borkenkäfer befallene Waldgebiete verbracht hat, stößt auf Unverständnis. Söder findet, dass sein Wirtschaftsminister eigentlich anderes zu tun hätte.
Söder will der bayerischen Wirtschaft Türen öffnen
So wie er eben, in China. "Real- statt Moralpolitik" will er machen, der bayerischen Wirtschaft Türen öffnen, statt im Uiguren-T-Shirt rumzurennen, was der verfolgten Muslim-Minderheit ohnehin nichts bringe. So oder so ähnlich sagt Söder das in Sichuan, in Peking, bei jeder Gelegenheit, auch nach seinem Treffen mit Ministerpräsident Li Qiang, ein Gespräch übrigens "schon auf Augenhöhe", wie der Bayer unmittelbar danach betont. Zumindest Söders Gastgeber scheinen mit dieser Haltung ganz gut klarzukommen. Söders Besuch zeige, "dass es in Deutschland noch einige einsichtige Politiker gebe, die sich um die wahren Interessen kümmern", leitartikelt etwa die chinesische Global Times am Dienstag. Söder sehe seine Chinareise "als Pluspunkt für die nächste Bundeskanzlerwahl", analysieren die chinesischen Journalisten laut einer von der deutschen Botschaft angefertigten Übersetzung.
Ganz falsch liegt das Staatsblatt damit nicht. Dass er den Kampf um die Kandidatur zuletzt ausgerechnet an Armin Laschet verloren hat, nagt noch immer an Söders Stolz. Mal sinniert er darüber, ob ein Bayer überhaupt Kanzler werden könne, dann beschreibt er, warum der Wahlkampf mit einer derart gespaltenen Union doch haarig geworden wäre. Mal so, mal so, Yin und Yang. Unternimmt er noch mal einen Anlauf? Dazu kein Wort. Dafür wird in diesen Tagen in China umso deutlicher, woran Söder noch arbeiten muss, wenn er tatsächlich einmal über München hinauswachsen will.
"Gleiche Bedingungen, fairer Handel, das sagt doch jeder." Der deutsche Austauschstudent im grünen Schlabberhemd ist sichtlich unzufrieden mit der Antwort, die er soeben vom bayerischen Ministerpräsidenten bekommen hat. Söder trifft sich mit Studierenden an der renommierten Tsinghua Universität, es ist noch früh am Mittwochmorgen, doch die jungen Leute haben bohrende Fragen. Sie könne sich vorstellen, nach Deutschland zu ziehen, sagt eine Chinesin, die auch einen amerikanischen Pass hat, womit Bayern sie locken wolle? Eine junge Türkin, die zuvor in Genf studierte, klagt, die Deutschen würden oft voller Vorurteile auf China blicken. Ob Söder das auch so sehe?
Söder und sein Tross sind von Präzision und Wucht der Fragen etwas überrascht, was als Wohlfühltermin gedacht war, entpuppt sich als harte Arbeit. Das liegt weniger an Söders Englisch, im Gegenteil – in seiner "Ich-scher-mich-um-nichts"-Mentalität schlägt er sich allen Grammatiklücken zum Trotz recht wacker. Was fehlt, ist der Inhalt. "Ihr seid die Brücke", sagt Söder, "wir setzen auf Austausch und Reisen" und, klar, "Bayern ist wie Kalifornien – Sonne, Technologie, ein gutes Leben". Doch mit Bierzeltsprüchen und Bayern-Klischees kommt Söder bei der künftigen chinesischen Elite nicht weit. Die Studierenden, die für den Termin wohl streng ausgesucht wurden, bleiben höflich – und hartnäckig.
Söder könnte über Freiheit reden – tut er aber nicht
Söder könnte nun von Freiheit reden, gerade jetzt, wo sich autokratisch regierte Länder wie China auf der Überholspur wähnen, er könnte von der Liberalität sprechen, auf die der Freistaat so stolz ist und die man mit Wirtschaftswachstum allein nicht kaufen kann. Stattdessen: nichts, gar nichts. Bayerns Regierungschef hat an diesem Vormittag keine Botschaft an Chinas künftige Elite. Er ist froh, als der Termin vorbei ist.
In Mutianyu, an der Mauer, beginnt das Interesse an den immer gleichen Söder-Fotos langsam zu verebben. Söder hat während der Reise immer wieder über diesen einen Termin gesprochen. Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, dass sein damaliger Rivale Horst Seehofer am gleichen Mauerstück in Atemnot geriet und sich trotz aller Bitten der Fotografen weigerte, die letzten Stufen zur Mauer zu erklimmen.
Für Seehofer verschärfte sich nach der Chinareise ein jahrelanges, zähes Ringen mit Söder, der ihn als Ministerpräsidenten ablösen wollte. Jetzt ist Söder am Ziel, und ein Herausforderer, der ihm ständig im Nacken sitzt, nirgendwo in Sicht. Geklärt ist damit freilich nichts. Wie es mit Söder weitergeht, die Antwort auf diese Frage liegt an diesem Mittwoch genauso im Nebel wie die Chinesische Mauer.