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Augsburg
Klettern, obwohl der Körper gelähmt ist: "Man darf nie aufgeben"
Klettern ist ein Trendsport. Im Alpenverein Augsburg gibt es aber eine besondere Gruppe. Hier steigen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen über ihre Grenzen hinaus.
0004416768.jpg       -  Johannes Müller hat es geschafft: Mithilfe des Trainers ist er die zwölf Meter hohe Kletterwand hinaufgestiegen.
Foto: Silvio Wyszengrad | Johannes Müller hat es geschafft: Mithilfe des Trainers ist er die zwölf Meter hohe Kletterwand hinaufgestiegen.
Daniela Hungbaur
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:03 Uhr

Johannes Müller hat von Geburt an eine spastische Lähmung beider Beine. Sie erschwert ihm das Gehen beträchtlich, sodass er sich nur mithilfe von zwei Krücken fortbewegen kann. Wer den 41-Jährigen die Sportanlage Süd in Augsburg betreten sieht, traut etwa 30 Minuten später seinen Augen kaum: Johannes Müller steigt kontinuierlich eine zwölf Meter hohe Kletterwand hinauf – Griff für Griff, hoch konzentriert.

Wer genau hinschaut, dem fallen natürlich schnell Unterschiede zu den vielen anderen Kletterern in der Halle auf: So zieht Johannes Müller seine Füße Stück für Stück mithilfe von Beinschlaufen hoch. Auch trägt er einen besonderen Gurt um seinen Oberkörper. Und unter ihm steht Theo Hoch und sichert ihn mit einem speziellen Flaschenzug, er freut sich sichtlich, dass Müller so gut vorankommt.

Beim Klettern ist alle Mühsal vergessen

Ein Stück weiter rechts an der Kletterwand hat es Silke Waldmann schon geschafft. Die 54-Jährige war ganz oben und lässt sich nun schwebend und hüpfend zugleich wieder runter auf den Boden. Unten angekommen, kippt sie auf den Rücken, winkelt die Beine an und hat einen Gesichtsausdruck, den man als beinahe selig beschreiben möchte – stolz, entspannt, voller Freude. Ihre spastischen Lähmungen am ganzen Körper, die ihr auch das Sprechen sehr erschweren – in diesem Moment scheint alle Mühsal vergessen.

Alina Dajnowicz sieht zu Silke Waldmann und sagt: "Beim Klettern geht einem eben das Herz auf." Die 49-Jährige ist nicht nur selbst eine leidenschaftliche Kletterin, sie leitet auch die Gruppe, die sich "Die ParaVertikalen" nennt und zur Sektion Augsburg des Deutschen Alpenvereins gehört. Alle zwei Wochen am Freitagnachmittag treffen sie sich in der Sportanlage Süd zum Klettern, machen aber auch regelmäßig Ausflüge in die Berge – Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen und erfahrene Trainerinnen und Trainer, die sich ehrenamtlich engagieren. Ein Projekt, das auch den Bezirk Schwaben überzeugte: "Die ParaVertikalen" belegten den ersten Platz des diesjährigen Sozialpreises.

Die Trainerin hat ihre Höhenangst überwunden

Die Idee zu der Gruppe kam ursprünglich von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), erzählt Alina Dajnowicz, die selbst eigentlich auch über eine Einschränkung zum Klettern gekommen ist: "Ich hatte Höhenangst. Und eine Bekannte erklärte mir damals: Dann musst du klettern gehen", erzählt sie. Allerdings war ihr unabhängig davon schon nach dem ersten Kletterkurs klar: "Das ist meine Sportart!" Sobald sie an der Wand hänge, sei sie ausschließlich im Hier und Jetzt, bekomme ihren Kopf komplett frei und spüre gleichzeitig, wie alles an ihr von dem konzentrierten Bewegungsablauf profitiere: "Man arbeitet ja wirklich mit dem ganzen Körper", erklärt sie, die Balance werde beispielsweise ebenso verbessert wie die Beweglichkeit. "Und auch das soziale Miteinander wird trainiert, weil Klettern sehr viel mit Vertrauen zu tun hat – Vertrauen einerseits auf meine eigenen Kräfte, Vertrauen andererseits aber zu demjenigen, der mich sichert." Daneben stärke Klettern die Psyche: Aus ihrem Psychologiestudium weiß sie, dass Klettern etwa bei Depressionen und Angststörungen die Therapie unterstützen kann. Bei so einem breiten Wirkungsspektrum wundert es nicht, dass sie und ihr Team aus ehrenamtlichen Trainerinnen und Trainern auch eine Gruppe für Kinder mit körperlichen Handicaps planen. 

Klettern hilft auch bei Muskel- und Gefühlsstörungen

In der Gruppe für Erwachsene engagieren sich aktuell etwa zwölf Ehrenamtliche, rund 20 Menschen mit Beeinträchtigung nutzen das Angebot. Unter ihnen Uschi Schmid. Sie leidet an Multiple Sklerose, kämpft immer wieder mit Muskel- und Gefühlsstörungen. Doch das Klettern hilft ihr. Denn: "Man muss immer wieder an seine Grenzen gehen, darf nie aufgeben", sagt sie und schaut Corinna Henne zu, die zügig die Kletterwand nach oben steigt. Deren Handicap? An der Kletterwand sieht man keines. Als die 26-Jährige wieder auf dem Turnhallenboden steht, erklärt sie, dass sie von Geburt an halbseitig gelähmt ist. Ihre Fitness führt sie auf ihre große Sportleidenschaft und ihre guten Therapien von klein an zurück. Dass sie allerdings klettert, habe noch einen ganz anderen Grund: "Es macht einfach so viel Spaß!"

Die Freude, man sieht sie auch dem an den Beinen gelähmten Johannes Müller an und auch bei ihm steht sie an erster Stelle, wenn man fragt, warum er ausgerechnet klettert. "Natürlich hoffe ich auch, mit dem Training meine Beinbeweglichkeit zu verbessern", sagt er. "Vor allem aber fühlt man sich gleich viel besser, weil man etwas erreicht hat."

Weitere Infos: www.dav-augsburg.de/Abteilungen/ParaVertikalen

 
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