Eine Bronze-Tafel mit Kreuz auf dem Weg zur Zugspitze in etwa 2800 Metern Höhe erinnert an das Drama. „Er liebte das Laufen und fand dabei den Tod“ heißt es im Gedenken an Uwe M. aus dem nordrhein-westfälischen Witten. Der 41-Jährige war einer der beiden Sportler, die vor zehn Jahren beim Berglauf auf die 2962 Meter hohe Zugspitze ums Leben kamen. Viele weitere Läufer, die vom schlechten Wetter mit Schnee, Sturm und Temperaturen unter null Grad überrascht wurden, mussten von Bergwachtlern und Notärzten versorgt werden.
Rückblick: Es ist der 13. Juli 2008. An diesem Sonntagmorgen fällt im Tiroler Ehrwald am Fuß des gewaltigen Bergmassivs der Startschuss zum Zugspitzlauf. Es ist die achte Auflage des anspruchsvollen Wettbewerbs. Etwa 600 Teilnehmer stehen am Start, wollen über die 16,1 Kilometer lange Strecke die Zugspitze erklimmen. Wanderer benötigen für die Route über das Gatterl und die Knorrhütte sieben bis neun Stunden, die Besten beim Zugspitzlauf schaffen das in knapp über zwei Stunden.
Es ist 13 Grad kühl und regnet an diesem Morgen wie aus Kübeln. Doch trotz dieser widrigen Verhältnisse starten die meisten Läufer in kurzen Hosen und im luftigen T-Shirt. Es ist so etwas wie ein kollektiver Wahnsinn: Bei der Ausgabe der Startnummern waren die Teilnehmer des Laufes noch mündlich und schriftlich darauf hingewiesen worden, dass sie oben mit Regen, Schnee und Kälte zu rechnen haben. Handschuhe, Mütze und Regenjacke haben aber nur wenige dabei.
„Wer nicht kotzt, läuft nicht am Limit“, steht auf dem T-Shirt eines Teilnehmers. Wenige Minuten vor dem Start ist die Stimmung unter den Sportlern trotz schlechten Wetters gut. Späße werden gemacht, bei solch widrigen Bedingungen ist Galgenhumor ein bewährtes Rezept, um sich gegenseitig Mut zu machen. Ein Blitz und ein Donnergrollen kurz nach dem Startschuss sind so etwas wie ein böses Vorzeichen. Die Sportler gehen auf die Strecke, für zwei wird es ihr letzter Lauf. Es geht zunächst über Asphalt hinauf bis zur Ehrwalder Alm und dann über steile Bergwege und die deutsch-österreichische Grenze weiter zur Knorrhütte und über die Bergbahn-Station Sonnalpin zum Gipfel. Es ist kurz nach elf Uhr, als der Spitzenbergläufer Martin Echtler aus dem oberbayerischen Peiting, damals 39 Jahre alt, als Erster ins Ziel läuft. In zwei Stunden und sieben Minuten hat er die über 2000 Höhenmeter und die 16 Kilometer bewältigt.
In der folgenden Stunde überschlagen sich auf der Strecke die Ereignisse. Oberhalb vom 2579 Meter hoch gelegenen Sonnalpin geht der kalte Dauerregen zunehmend in Schnee über. Ein böiger Wind sorgt dafür, dass immer mehr Sportler auskühlen. Manche verzichten am Sonnalpin auf die letzten 350 Höhenmeter und bringen sich an der Bahnstation in Sicherheit. „Wollt ihr wirklich da noch hinauf?“, fragt ein Bergwacht-Posten die Läufer. Viele wollen, obwohl sie frieren und durch und durch nass sind – aufzugeben ist nicht die Stärke der Ausdauersportler.
Es ist halb zwölf Uhr, als sich die Situation weiter verschärft. Auf dem steilen, mit Drahtseilen gesicherten Steig hinauf zum Gipfel liegt inzwischen eine dünne Schneedecke. Und es schneit und stürmt weiter. Mehr als 50 Bergretter sind jetzt im Einsatz, um dutzende erschöpfte und unterkühlte Sportler zu versorgen. Immer wieder schreien Menschen um Hilfe, die Retter wissen kaum, wo sie zuerst helfen sollen. Der Schneefall wird immer stärker und der Wind frischt böig auf.
Für Uwe M. kommt jede Hilfe zu spät. Keine 200 Meter unter dem Gipfel stirbt er an Unterkühlung und Erschöpfung so wie ein 45 Jahre alter Sportler aus dem württembergischen Ellwangen. Beide gelten als sehr erfahrene Marathonläufer.
Gegen zwölf Uhr sagt Veranstalter Peter Krinninger den Lauf ab. Viel zu spät, werden ihm Kritiker später vorhalten. Wer danach am Sonnalpin ankommt, wird aus dem Rennen genommen. Dort wie an der Gipfelstation spielen sich dramatische Szenen ab. Durchfrorene, nasse und zitternde Sportler liegen am Boden. Einige bekommen Infusionen, es gibt zu wenig Decken.
Uwe Pfanzelt aus Pforzen bei Kaufbeuren ist an jenem Sonntag auch dabei. Der heute 56-Jährige erinnert sich: „Blauäugig“ und viel zu dünn angezogen seien die meisten Sportler auf die Strecke gegangen. Er selbst habe am Sonnalpin schließlich abgebrochen. Er habe zwar Handschuhe dabeigehabt, aber trotzdem jämmerlich gefroren, weil zuvor alles durchnässt wurde.
Pfanzelt erkennt schnell, dass er gebraucht wird. Der gelernte Krankenpfleger leistet oben im Ziel Erste Hilfe. „Die Leute lagen auf dem Boden, regungslos wie Käfer auf dem Rücken“, schildert er. Viele hätten am ganzen Leib gezittert: „Die wussten nicht mal mehr, wie sie heißen und wo sie herkommen.“ Dass zwei Menschen bei dem Lauf ums Leben kamen, erfährt Pfanzelt erst bei der Talfahrt mit der Bergbahn. Er sagt: „Das hat uns sehr betroffen gemacht.“ An jenen Unglückstag an der Zugspitze denkt der begeisterte Berg- und Trailläufer noch heute.
Einen Tag nach dem katastrophalen Lauf beherrscht das Geschehen an der Zugspitze die Schlagzeilen. Dem Veranstalter wird vorgeworfen, das Rennen nicht rechtzeitig abgesagt zu haben. Die Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung auf. Der Sinn solcher extremen Breitensportveranstaltungen wird von vielen generell infrage gestellt. Bergsteiger-Ikone Reinhold Messner meldet sich zu Wort. Er kritisiert, dass durch solche Events das Gebirge zum Sportplatz degradiert werde. Der Südtiroler sagt, er würde an solchen Wettbewerben nie und nimmer teilnehmen, und fordert, Bergläufe abzuschaffen. Im Mittelpunkt der Kritik steht Veranstalter Peter Krinninger aus Garmisch-Partenkirchen. Aber es gibt auch viele Sportler, die die Eigenverantwortung jedes Einzelnen betonen. Schließlich seien sie vorher auf die Gefahren hingewiesen worden. Anders als in manchen Medien dargestellt, seien Regen, Schnee, Sturm und Kälte nicht überraschend gekommen. Schon am Vortag habe der Wetterbericht für die Hochlagen der Alpen winterliches Wetter angekündigt. Zudem müsse eigentlich jedem klar sein, dass es auch im Sommer im Hochgebirge schneien und kalt sein könne.
Knapp ein Jahr nach den Ereignissen an der Zugspitze flattert Veranstalter Peter Krinninger ein Strafbefehl ins Haus. Er soll den Tod der beiden Sportler fahrlässig verursacht haben. In neun Fällen habe er sich zudem der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht, heißt es. Krinninger soll 90 Tagessätze zu je 150 Euro, insgesamt also 13 500 Euro, zahlen. „Ich bin der vollen Überzeugung, dass mich keine Schuld am Tod der beiden Läufer trifft“, sagt Krinninger. Gleichwohl bedauere er das Unglück zutiefst. Weil er aber den Strafbefehl nicht akzeptiert, kommt es im November 2009 zum Prozess vor dem Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen. Dieser endet mit einem Freispruch für den 54 Jahre alten Veranstalter. In der Laufszene war der Prozess mit großem Interesse verfolgt worden. Wenn das Gericht der Eigenverantwortung der Laufteilnehmer eine geringe Rolle einräumen würde, dann stünde jeder Veranstalter quasi schon mit einem Bein im Gefängnis, hieß es. Und obwohl alles anders kam und der Prozess mit einem Freispruch endete, hat das Bergdrama an der Zugspitze doch einiges verändert.
Nicht nur im Alpenraum, sondern auch in den deutschen Mittelgebirgen gibt es heute so viele Berglauf- und Trailrunning-Veranstaltungen wie nie zuvor. Die Organisatoren wollen sich so gut wie möglich absichern. Nicht nur durch eine Unterschrift der Teilnehmer. Bei vielen Rennen gibt es jetzt immer häufiger klare Regeln, was an Kleidung und Sicherheitsausrüstung mitgenommen werden muss. Vorgeschrieben werden zumeist Regenjacke, langbeinige und langarmige Bekleidung, Mütze und Handschuhe sowie Handy und Verbandszeug samt dünner Alu-Rettungsdecke. Das alles steht nicht nur auf dem Papier, sondern wird zunehmend streng kontrolliert. Wer nicht alles im kleinen Rucksack dabeihat, darf nicht starten. Vorgeschrieben wird oft auch die Mitnahme einer bestimmten Getränkemenge.
Nach vielen Jahren gibt es in diesem Jahr keinen Zugspitzlauf auf der Route über das Gatterl mehr. Schon 2014 hatte Veranstalter Krinninger keine Genehmigung mehr von den bayerischen und den Tiroler Behörden für den Lauf bekommen. Stattdessen hatte eine Münchener Agentur, die mit dem Unglück nicht in Verbindung gebracht werden will, das Event übernommen. Jetzt ist Schluss.
Die Zugspitze aber wird in den Köpfen vieler Menschen mit dem tragischen Laufereignis vor zehn Jahren verbunden. Und mit der Diskussion darüber, wie groß die Fürsorgepflicht eines Veranstalters einerseits und die Eigenverantwortung der Teilnehmer andererseits ist. Für Bergläufer Uwe Pfanzelt, der in seiner Freizeit fast immer im Laufschritt im Gebirge unterwegs ist, steht fest: Sicherheitsausrüstung und Ersatzklamotten sind immer dabei. Deshalb habe er auch volles Verständnis für strenge Kontrollen bei Wettbewerben.