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Senden/Donauwörth
In Bayern kommt eine neue Schulart für Fünftklässler
Wirtschaftsschulen dürfen erstmals eine 5. Klasse anbieten. Befürworter sehen das als Chance für praxisnahe Ausbildung. Kritiker fürchten eine Kannibalisierung im Schulsystem.
Übertrittszeugnisse für Viertklässler.jpeg       -  Für die Wirtschaftsschule brauchen Kinder einen Notenschnitt von 2,66 – denselben wie für die Realschule.
Foto: Matthias Balk, dpa | Für die Wirtschaftsschule brauchen Kinder einen Notenschnitt von 2,66 – denselben wie für die Realschule.
Annemarie Rencken, Sarah Ritschel
 |  aktualisiert: 12.03.2024 14:29 Uhr

Die Aula der Wirtschaftsschule Senden platzt aus allen Nähten. Möglicherweise können Kinder hier bald schon ab der 5. Klasse lernen, bislang war das erst ab der 6. Jahrgangsstufe möglich. Das Interesse an einem Einstieg direkt nach der Grundschule ist in Senden im Kreis Neu-Ulm spürbar: Es ist der Tag der offenen Tür, erst kürzlich hat das Kultusministerium den Schulversuch "5. Klasse Wirtschaftsschule" angekündigt. Die Schule in Senden wird sich dafür bewerben.

Sie erhoffe sich Informationen dazu, sagt eine Mutter, die mit ihren beiden Kindern im ersten Stock an einer Balustrade lehnt. Ihr Sohn füllt Quizfragen zur Wirtschaftsschule aus, die ab September sein Lernort sein könnte. "Ungefähr seine ganze 4. Klasse ist heute hier", erklärt die Mutter. Das Klassenzimmer, in dem es Informationen zum Übertritt gibt, sei so voll, dass sie mit ihren beiden Kindern lieber nicht dort geblieben ist.

Wirtschaftsschule und Realschule erfordern denselben Notenschnitt

Der Schulversuch ab Herbst gründet auf dem Versprechen der Bayern-Koalition, die berufliche Bildung zu fördern. Künftig haben Viertklasskinder am Ende der Grundschule also eine weitere Wahlmöglichkeit neben Mittelschule, Realschule und Gymnasium. Um die Wirtschaftsschule besuchen zu können, brauchen sie einen Notenschnitt von 2,66 – denselben wie für die Realschule. Die Wirtschaftsschule bereitet gezielt auf eine Ausbildung vor. Ökonomische Bildung steht schon bei den Jüngsten mit zwei Wochenstunden auf dem Plan.

Vor dem Klassenzimmer wartet in Senden eine weitere Mutter auf ihren Sohn. Kann er als Viertklässler überhaupt wissen, ob er später einmal eine Ausbildung machen möchte? Die Mutter zuckt mit den Schultern: "Es gibt ja immer noch die Möglichkeit, dass er sich später spezialisiert", sagt sie mit Blick auf die verschiedenen Zweige.

Rund 17.000 Schüler gehen bereits auf 70 Wirtschaftsschulen in Bayern

Ein paar Meter weiter wird einer anderen Mutter eine Schulzeitung angeboten. Ihre Tochter lerne bereits an der Wirtschaftsschule und sei "sehr begeistert", wie sie erzählt. "Ich war hier selbst auf der Schule und habe gemerkt, dass ein kaufmännischer Beruf nichts für mich ist." Trotzdem habe sie viele wirtschaftliche Sachen fürs Leben und ihren Job als Arzthelferin gelernt.

In Bayern gibt es rund 70 Wirtschaftsschulen mit etwa 17.000 Schülerinnen und Schülern, viele in privater Trägerschaft, wie die Wirtschaftsschule Donauwörth. Hier existiert bereits eine 5. Klasse, sie wurde zum aktuellen Schuljahr eingeführt. "Jetzt haben die Familien in Bayern echte Wahlfreiheit", sagt Schulleiterin Gabriele Braun. In Donauwörth merken sie, dass mehr Kinder sich für eine Anmeldung entscheiden, wenn sie nach der Grundschule direkt starten können und nicht noch ein Jahr an einer anderen Schulart überbrücken müssen. "Wir hätten zwei 5. Klassen bilden können", sagt Braun. "In der 6. Jahrgangsstufe ist es in der Regel nur eine."

Kleine Klassen und digitale Ausstattung machen die Donauwörther Schule attraktiv

Eltern, sagt sie, schätzten an der Donauwörther Schule vor allem die geringe Größe: elf Klassen mit 250 Schülerinnen und Schülern. Zudem die digitale Ausstattung – jedes Kind ein eigenes Chromebook –, und den Praxisbezug. Ab der 9. Jahrgangsstufe hätten Schüler die Möglichkeit, Module zu wählen – Umwelttechnik etwa, Gesundheitsökonomie, Touristik oder Robotik. Es stimme längst nicht mehr, dass man hier nur auf eine kaufmännische Ausbildung vorbereitet werde. "Etwa ein Drittel unserer Absolventen besucht die FOS, 30 Prozent wechseln in den technischen oder sozialen Bereich, 40 Prozent ins Kaufmännische", so Braun.

Während Kultusministerium und Wirtschaftsschulen die neue Wahlmöglichkeit bejubeln, kommt bei der Konkurrenz der Schulversuch nicht gut an. "Der Ausbau ist in jeder Hinsicht kontraproduktiv", warnt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands. Sie fürchte, dass die ohnehin schon darbende Mittelschule weiter geschwächt und der "Übertrittsdruck nach der 4. Klasse verstärkt wird".

Realschulen fürchten Konkurrenz durch Wirtschaftsschulen

Auch an den Realschulen fürchtet man Nachteile – vor allem für kleinere Standorte im ländlichen Raum mit ungünstiger Verkehrsanbindung, wie Cornelia Lipinski betont. Sie ist Chefin der Sophie-La-Roche-Realschule in Kaufbeuren und Vorsitzende der Vereinigung bayerischer Realschuldirektorinnen und -direktoren. "Wenn in der Nähe dieser Schulen eine Wirtschaftsschule die 5. Jahrgangsstufe öffnet, besteht die Gefahr, Schüler zu verlieren." Das könne dazu führen, "dass wir manche Wahlmöglichkeiten an der Realschule nicht mehr anbieten können". In anderen Worten: Beide Verbandsvertreterinnen fürchten eine Kannibalisierung im etablierten Schulsystem.

Die Donauwörther Schulleiterin Gabriele Braun kann solche Klagen nicht nachvollziehen. "Bei rund 70 Wirtschaftsschulen im Vergleich zu 400 Real- und fast 1000 Mittelschulen kann kein Standort dadurch ernsthaft gefährdet sein."

 
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