Politisches Marketing ist für den Erfolg einer Regierung wichtiger denn je. Denn in Zeiten schneller Schlagzeilen muss Politik bestmöglich „verkauft“ werden, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Das gilt natürlich insbesondere dann, wenn Anspruch und Wirklichkeit nicht übereinstimmen.
Aktuelles Beispiel: Im November hatte Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) in seiner Regierungserklärung versprochen, Bayern bis 2023 für Behinderte komplett barrierefrei zu machen. Anfang Juli bekräftigte er noch einmal, dass dieses Versprechen uneingeschränkt für den gesamten öffentlichen Raum und für jede Art von Behinderung gelte.
Investitionsprogramm beschlossen
Ein großer Anspruch, der zweifellos mit großen finanziellen Anstrengungen verbunden ist. Ein von der bayerischen Sozialministerin Emilia Müller (CSU) vorgelegtes Maßnahmenpaket war zwar im Kabinett durchgefallen. Dennoch beschloss die Staatsregierung Mitte Juli für die Jahre 2015 und 2016 ein Investitionsprogramm von immerhin 192,6 Millionen Euro.
Ein näherer Blick auf die Liste der Einzelposten, die dieser Zeitung nun vorliegt, zeigt allerdings, dass das vollmundig verkündete Programm zu weiten Teilen eine Mogelpackung ist: Ganze 46,5 Millionen Euro in zwei Jahren stehen für zusätzliche Investitionen in die Barrierefreiheit etwa von Gerichten, Hochschulen oder Polizeiinspektionen zur Verfügung. Weitere dreieinhalb Millionen Euro gibt es für nicht nähere definierte „flankierende Maßnahmen“.
Die Mittel sind nicht neu
Der große Rest der vollmundig verkündeten Investitionssumme besteht dagegen offenbar aus längst existierenden Programmen oder aus der Verrechnung allgemeiner Fördertöpfe, die auch nur bedingt mit der Barrierefreiheit zu tun haben.
So sind etwa 30 Millionen Euro pro Jahr für die Förderung der Anschaffung von neuen Linienbussen vorgesehen. Dieser Posten versteckt sich allerdings in gleicher Höhe auch schon unter dem Titel 883-09-5 im aktuellen Haushalt für die Jahre 2013/2014. Besonders pikant: Die Mittel dafür werden dem Freistaat nach dem Entflechtungsgesetz für den öffentlichen Nahverkehr vom Bund zugewiesen.
Je zehn Millionen Euro sollen laut Programm für den Umbau von Bahnhöfen zur Verfügung stehen. Dabei handelt es sich aber offenbar um den rechnerischen Teilbetrag eines bereits 2013 beschlossenen „Bayern-Pakts“ mit der Bahn. Demnach sollen bis 2018 60 Millionen Euro des Freistaats in den behindertengerechten Umbau von immerhin 24 der rund tausend „Verkehrsstationen“ der Bahn fließen. Die Bahn selbst will noch einmal 340 Millionen Euro investieren. Mit diesen Mitteln sollen laut Seehofer – Vorsicht: Politik-Marketing – ab 2018 rund 86 Prozent der Bahnreisenden barrierefrei in die Züge gelangen. Wie viel Prozent der Bahnhöfe dann barrierefrei sind, bleibt aber offen.
Sorge der Kommunen
Wenig substanziell scheinen zudem die aufgelisteten Fördermittel für die Barrierefreiheit staatlicher Neubauten: Schließlich ist der behindertenfreundliche Zugang neuer staatlicher Gebäude seit Jahren bautechnischer Standard. Haushaltsexperten der Landtags-Opposition halten diesen Posten deshalb „mehr für PR als für Haushaltspolitik“. Gleiches gilt für die Förderung von Schulen und Kitas über den kommunalen Finanzausgleich. Dessen Gesamtvolumen bestimmt sich nämlich aus dem Gesetz – weshalb wohl bestehende Mittel schlicht für den neuen „barrierefreien“ Zweck umgewidmet werden.
Bayerns Kommunen befürchten nun, mit den Kosten von Seehofers Barrierefrei-Versprechen im Regen stehen gelassen zu werden: Natürlich sei man zur Mitfinanzierung bereit, sagte kürzlich Städtetags-Chef Ulrich Maly (SPD): „Aber wir haben keine Alleinfinanzierungsverpflichtung.“ Bislang plane der Freistaat nur mit „einer Summe, die ich im Nürnberger Süden alleine verbauen könnte“, findet der Nürnberger OB.
Kritik im Landtag
Auch im Landtag hält man Seehofers Programm für mehr als unzureichend. Allein barrierefreie Schulen und Kitas kosten nach Schätzungen der Grünen rund 1,5 Milliarden Euro. Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen seien von den Plänen ebenso ausgenommen wie Hilfen für Blinde oder Gehörlose. Im Vergleich zum Bedarf hantiere die Staatsregierung mit „lächerlichen Haushaltssummen“, findet die Grünen-Sozialexpertin Kerstin Celina: „Diese Finanzplanung zeigt, dass man sich von Seehofers vollmundigem Versprechen längst schleichend verabschiedet hat.“