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Neusäß, Neu-Ulm
Bahnstrecke Ulm-Augsburg: 20 Jahre Streit wegen 14 Minuten
Weniger Verspätungen, mehr Klimaschutz: Mit diesem Versprechen will die Bahn die ICE-Strecke Augsburg-Ulm ausbauen. Nun fürchten Anwohner um ihre Häuser.
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Foto: Marcus Merk | Symbolfoto Bahn / ICE Symbolfoto Bahn / ICE / Bahnausbau / Bahntrasse / Trasse / im Bild zwischen Neusäß und Diedorf
Stefan Foag
 |  aktualisiert: 06.04.2024 12:21 Uhr

Eine Heizung hat Tanja Arndt nicht. Wenn sie warm duschen will, muss sie einen Holzofen anschüren. Die Wände sind dünn, es ist kalt. Doch Arndt sagt: "Das war ganz großes Glück mit diesem Haus." Sie wohnt unweit von Augsburg, im Neusässer Stadtteil Westheim. Zwei Stockwerke, vier Zimmer, kleiner Garten. Zehn Jahre lang hat sie gesucht, erzählt Arndt. Bis sie das Haus mit bezahlbarer Miete bekommen hat. Wie lange sie noch bleiben kann, weiß sie nicht. "Wo soll ich hin?", fragt sie. "Wenn die mir das jetzt wieder wegnehmen, wo soll ich hin?" Tanja Arndt wohnt neben dem Bahnhof. Und wegen 14 Minuten muss sie vielleicht ihr Zuhause verlassen. 

14 Minuten – so viel schneller sollen eines Tages Fahrgäste von Augsburg nach Ulm kommen. Dieses Ziel gehört zum "Deutschlandtakt" – ein Fahrplan, nach dem Züge zwischen Großstädten öfter, schneller und pünktlicher fahren sollen. Dafür will die Deutsche Bahn eine neue ICE-Strecke bauen. Seit sechs Jahren arbeitet ein Planungsteam daran und erwägt vier mögliche Streckenverläufe. Zwei sind weitgehend neben der Autobahn, die zwei anderen in Teilen neben den bestehenden Gleisen. Letztere führen an Tanja Arndts Haus vorbei.

Tanja Arndt sagt: "In meinem Wohnzimmer wäre dann ein Gleis"

Stolz präsentiert Arndt die Bilder, die sie gemalt hat. Unter der Dachschräge im Schlafzimmer lagert ein Dutzend davon. In ihrem Haus hat sie Platz für ihr Hobby. "Das ist für mich schon großer Luxus", sagt sie. An die Züge, die hier alle paar Minuten vorbeifahren, hat sich Arndt gewöhnt. Durch die dünnen Wände sind sie im Haus gut zu hören. Zwischen ihrer Hofeinfahrt und den Bahngleisen ist nur eine schmale, nicht geteerte Straße. 

Wo genau die zusätzlichen Gleise gebaut würden, wenn es denn so käme, ist noch nicht klar. Die Bahn gibt beim jetzigen Planungsstand an, grob 20 Meter in der Breite zu brauchen. So viel Platz gibt es aber nicht zwischen den bestehenden Schienen und ihrem Haus. "In meinem Wohnzimmer wäre dann ein Gleis", sagt Arndt. 

Die Familie nebenan wohnt noch näher an den Schienen. Ihr Haus müsste auf jeden Fall weg. Eine Straße weiter noch zwei. Der Parkplatz eines Seniorenheims müsste weichen, die Gewächshäuser einer Gärtnerei und ein Friedhof. Es gibt zig weitere Menschen, die nicht genau wissen, ob ihr Haus bleiben kann. 

Dem gegenüber stehen andere Probleme, vor allem die Klimakrise. Im Bereich Verkehr hinkt Deutschland bei seinen Klimaschutzzielen hinterher. Innerhalb von sechs Jahren muss sich der CO₂-Ausstoß halbieren. Daher soll deutlich mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene wechseln. Die Bahn will bis 2030 ihre Fahrgastzahlen verdoppeln und ihre Infrastruktur ausbauen – auch zwischen Augsburg und Ulm. Die Strecke ist 170 Jahre alt, verursacht oft Verspätungen und gilt als Nadelöhr.

Die IHK befürchtet: Ohne die neue Trasse könnte Schwaben wirtschaftlich abgehängt werden

Ein weiteres Versprechen: Von Paris bis nach Budapest soll es künftig deutlich schneller gehen. Dafür sollen Hochgeschwindigkeitszüge mit bis zu 300 km/h fahren. Moderne Güterzüge könnten die Trasse nutzen und Lkw-geplagte Straßen entlasten. Davon profitiert auch die Region, ist die Industrie- und Handelskammer überzeugt. Ihre Befürchtung ist: Ohne die neue Trasse könnte Schwaben wirtschaftlich abgehängt werden. Alle drei betroffenen Landkreise sprechen sich für den Bahnausbau aus. Denn auch den Regionalzügen würde es helfen, wenn sie mehr Platz auf der bestehenden Strecke hätten. Augsburg will eine Art S-Bahn-Takt etablieren, ohne neue Trasse wäre das schwierig.

Doch da, wo Gleise gebaut würden, wehren sich viele. In Steinheim etwa, das zu Neu-Ulm gehört. Im Juli 2023 steht ein Bierzelt auf einer Wiese, daneben ein Kühlwagen für Getränke. Es riecht nach Steaks. Hier wird nicht gefeiert, sondern protestiert – gegen die Bahntrasse. Das Zelt ist voll. Auf der Bühne steht Jürgen Zimmermann. Graubrauner Vollbart, Hemd und Strohhut. Mit ruhiger Stimme spricht er ins Mikrofon: "Ein Projektteam sollte sich bewusst machen, was so ein Großprojekt für die Region bedeutet und bitte uns hier ernst nehmen." Großer Applaus. 

Zimmermann hat nicht nur die Veranstaltung organisiert, sondern auch ein Netzwerk aus Bürgerinitiativen gegen die Trasse formiert. Vor drei Jahren hat er von den Plänen der Bahn gehört. ICEs könnten bald neben seinem Heimatort Steinheim fahren. Einige Hundert Meter von seinem Haus entfernt, das er neu gebaut hat. Er sorgt sich wegen Lärm, der Natur, der Landschaft. Zimmermann will sich wehren. Mit einer Handvoll Mitstreitern druckt er Flugblätter und geht von Tür zu Tür. Im Herbst 2021 laden sie in eine Kneipe ein. Gut 50 Leute kommen, erzählt er. Sie gründen die "Bürgerinitiative Schwabentrasse". Doch Zimmermann reicht das nicht. 

Er trifft andere Aktivisten aus der Region, überzeugt sie, nicht allein die Bahnstrecke in ihrem Heimatort verhindern zu wollen. Mittlerweile sprechen 13 Bürgerinitiativen mit einer Stimme. Ihre Forderung lautet: keine Neubaustrecke. "Es wird zu viel über unsere Demokratie geschimpft. Mir ist ganz wichtig, dass man sich beteiligt im Rahmen seiner Möglichkeiten", sagt er. "Ich brenne quasi für die Demokratie." 

34 Kriterien entscheiden über den Streckenverlauf zwischen Augsburg und Ulm

Tatsächlich fühlen sich viele Menschen bei der Planung von Großprojekten übergangen. Das prominenteste Beispiel war Stuttgart 21. Tausende protestierten. Die Polizei vertrieb Demonstranten mit Wasserwerfern. Um eine solche Eskalation künftig zu vermeiden, entwickelte die Bundesregierung Anweisungen, wie Betroffene bei Bauprojekten früher und besser beteiligt werden sollen. Das Planungsteam für Ulm-Augsburg macht dafür viel: YouTube-Videos, Podcast, Kinderbuch. Mit einem mobilen Informationsstand fuhren Mitarbeiter in betroffene Orte. "Der Austausch war konstruktiv", betont ein Sprecher der Deutschen Bahn. 

„Ich weiß nicht, wie die sich das vorstellen“, sagt Tanja Arndt. Wenn Häuser abgerissen werden, bekommen Eigentümer eine Entschädigung. Aber Arndt sagt: „Das Haus gehört mir ja nicht, ich bin hier nur zur Miete.“ Ihr würde es schwerfallen, ein anderes bezahlbares Haus zu finden. Sie hofft nur, dass die Bahnstrecke anderswo gebaut wird. Einfluss nehmen kann sie nicht. 

Bei Jürgen Zimmermann ist das anders. Er erinnert sich gut an einen Samstag im vergangenen Oktober. Zimmermann sitzt in einem Festsaal. Hohe Decke, große Fenster, breite Treppe mit niedrigen Stufen. Im Forum Günzburg finden oft Konzerte oder Tanzbälle statt. An jenem Tag trifft sich hier das Dialogforum, ein Beteiligungsformat der Bahn. Mitglieder sind Wirtschaftsvertreter, Naturschützer, Politiker und Bürgerinitiativen. Zimmermann sitzt mit etwa 20 Leuten an einem langen Tisch. Sie legen fest, was die Bahn bei ihrer Trassenauswahl besonders berücksichtigen soll. Ist Lärmschutz wichtiger als Jagdgebiete? Grundwasser zu erhalten wichtiger, als Tiere zu schützen? 

Zur Auswahl stehen 34 Kriterien. Das Verfahren leitet die Universität Innsbruck. Sie bewertet die vier möglichen Streckenverläufe anhand dieser Kriterien. Gleichzeitig beurteilt die Regierung von Schwaben alles rechtlich. Aus beidem zieht das Bahn-Team Schlüsse und entscheidet, welche Variante es bauen will. "Es war schwierig, weil alle Punkte wichtig sind", erzählt Zimmermann heute. "Man hat versucht, unter den wichtigen Punkten die ganz wichtigen Kriterien herauszufinden." 

Der Bahnbeauftragte Michael Theurer sieht bei der Bürgerbeteiligung Grenzen

Sie einigen sich: Lärmschutz, regionale Erschließung, Raumentwicklung und das Landschaftsbild haben besondere Bedeutung. Alle sitzen an einem Tisch, auch Gegner der neuen Zugstrecke. Die Bahn bewertet die Beteiligung als Erfolg. Jürgen Zimmermann sieht das anders. 

Er stellt die Planung prinzipiell infrage. Zwei neue Gleise, 26 Minuten Fahrzeit von Augsburg nach Ulm und Güterverkehr auf der neuen Strecke – davon hält er nichts. Darauf hat das Dialogforum aber keinen Einfluss. Die Vorgaben kommen vom Bundesverkehrsministerium. Zimmermann hält vieles für intransparent, fordert genauere Einsicht in die Planung. "Das ist keine Bürgerbeteiligung auf Augenhöhe", sagt er. 

Der Bahnbeauftragte der Bundesregierung, Michael Theurer, betont: "Es geht natürlich bei der Bürgerbeteiligung nicht darum, dass Bürger die Trasse planen." Er glaubt, dass die Menschen gut eingebunden sind, es aber Grenzen geben muss. Aus seiner Sicht ist die Bedeutung für Deutschlands Wirtschaft zu hoch. Entscheiden wird der Bundestag. Dort will die Bahn bis Mai 2025 eine bevorzugte Trasse vorstellen. Kurz danach sind Sommerpause, Wahlen, Regierungsbildung. Wann genau eine Entscheidung fällt, ist offen. "Aufgrund der Erfahrungen aus anderen Projekten rechne ich mit mindestens 20 Jahren Planungs- und Bauzeit", sagt Theurer. Die Trasse wäre somit frühestens 2038 fertig. 

Betroffene quält die Frage, wie es nun weitergeht. Auch Tanja Arndt sehnt sich nach Gewissheit: "Ich habe sehr hart gekämpft, dass ich so ein Leben haben darf. Ich möchte das nicht verlieren." Erste Ergebnisse kommen wohl bald. Die Regierung von Schwaben will mit ihrer Bewertung der Trassenvarianten im Mai fertig werden, die Universität Innsbruck mit ihrem Verfahren auch in diesem Halbjahr. Daraus wird die Bahn die Variante ableiten, die sie bauen will. "Ich gehe davon aus, dass zumindest Zwischenergebnisse auch der Öffentlichkeit kommuniziert werden", sagt der Bahnbeauftragte Theurer

Die Bürgerinitiative Schwabentrasse denkt über Protestaktionen nach

Die Bürgerinitiative Schwabentrasse wehrt sich weiter. Ein Dienstagabend im Februar, Vereinssitzung in der Dorfkneipe im Nersinger Ortsteil Straß. Vor dem Fenster ein Fußballplatz, Pokale in der Vitrine. Jürgen Zimmermann hat einen Laptop vor sich und eine Pizza. Fünf Leute sitzen am Tisch. Ein Dutzend andere sind per Video zugeschaltet und auf die Leinwand projiziert. Bürgerinitiativen aus Orten zwischen Augsburg und Ulm. Es geht um die nächsten Protestaktionen. Sie rechnen damit, dass die Bahn die Trasse weitgehend entlang der A8 bauen will. Würde das offiziell, kann sich Zimmermann vorstellen, mit einem Konvoi auf der Autobahn zu demonstrieren. Sie werden sich wohl wehren, bis der erste Zug rollt. 

Zimmermann hat noch immer die Hoffnung, dass genau das nie passiert. Anfang des Jahres wurde bekannt: Für neue Bahnstrecken ist deutlich weniger Geld verfügbar. Darauf angesprochen, sagt Zimmermann: "Da habe ich jetzt ein Lächeln im Gesicht."

Der Bahnbeauftragte hält am Projekt fest. Theurer ist zuversichtlich, dass der Bundestag Geld genehmigen wird, wenn die Strecke fertig geplant ist. Allerdings setzt er andere Prioritäten als seine Vorgänger im Bundesverkehrsministerium: "Bis 2030 stehen Sanierungen im Vordergrund." Auch hier ist die Finanzierung noch nicht klar. Vor wenigen Tagen haben die Bundesländer ein wichtiges Gesetz blockiert. Die Gleise zwischen Augsburg und Ulm wären 2030 dran. Zuerst zu reparieren, was da ist, hält auch Zimmermann für sinnvoll: "Die Korridorsanierung ist genau die richtige Richtung." Über die neue Bahnstrecke wird wohl noch viele Jahre gestritten.

Zu diesem Podcast können Sie auch einen dreiteiligen Podcast anhören.

 
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