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Stuttgart
Kretschmanns Kronprinz kann nur Cem Özdemir heißen – oder etwa nicht?
Cem Özdemir soll in Baden-Württemberg als grüner Spitzenkandidat Winfried Kretschmann beerben. Doch die Partei will die Nachricht so lange wie möglich zurückhalten.
300 Jahre Uracher Schäferlauf.jpeg       -  Winfried Kretschmann (rechts), noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg – und sein Nachfolger? Es gilt als ausgemacht, dass Cem Özdemir grüner Spitzenkandidat bei der nächsten Landtagswahl wird. Aber in Umfragen liegt seine Partei derzeit klar hinter der CDU.
Foto: Stefan Puchner, dpa | Winfried Kretschmann (rechts), noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg – und sein Nachfolger? Es gilt als ausgemacht, dass Cem Özdemir grüner Spitzenkandidat bei der nächsten Landtagswahl wird.
Ulrike Bäuerlein
 |  aktualisiert: 30.06.2024 02:34 Uhr

Wann kommt er? Oder kommt er am Ende gar nicht? An diesem Abend im Juni ist die seit Monaten im Südwesten diskutierte Frage nach Cem Özdemir ausnahmsweise schnell beantwortet: Er kommt, und zwar nach Stuttgart. Wenn auch mit Verspätung. Das Flugzeug aus Berlin mit dem grünen Bundeslandwirtschaftsminister an Bord lässt auf sich warten. Die rund 200 Unternehmerinnen und Unternehmer im Arbeitgeberverband Südwestmetall, denen Özdemir als prominenter Redner angekündigt ist, werden einstweilen gut unterhalten: Felix Brych, promovierter Jurist und bis vor wenigen Jahren deutscher Fifa-Schiedsrichter, berichtet launig aus dem Fußball-Alltag eines Unparteiischen. Es geht um viele Entscheidungen von großer Tragweite und auf teils unklarer Faktenbasis in kürzester Zeit. Und darum, mit Fehlern und Niederlagen umzugehen und daraus neue Stärke zu gewinnen.

Das hätte wohl sowohl den VfB-Stuttgart-Fan als auch den Grünen-Politiker Özdemir durchaus interessieren können. Denn die für die Öko-Partei auch in Baden-Württemberg niederschmetternden Europa- und Kommunalwahlen sind an diesem Abend gerade einmal drei Tage her. Minus 9,5 Prozentpunkte im Südwesten bei der Europawahl, von 23,3 auf 13,8 Prozent, die Kretschmann-Grünen nur noch knapp über dem Bundesergebnis von 11,8 Prozent – der Teppich, auf dem die Grünen so lange geflogen sind im Südwesten, er ist unsanft gelandet im Frühsommer 2024. Um nicht zu sagen: Er ist abgestürzt.

Der Kretschmann-Faktor scheint in Baden-Württemberg zu verpuffen

„Eine krachende Niederlage“, hat es Regierungschef Winfried Kretschmann genannt, „eine, die bitter ist, sehr, sehr hart und die tief geht." Auch bei der Wahl in den Gemeinderäten und Kreistagen haben die Grünen teils kräftig Federn gelassen. Der Kretschmann-Faktor, er scheint zu verpuffen. Die Zahl derer, die sich im Südwesten vorstellen können, die Grünen zu wählen, hat sich nach ersten Wahlforschungsergebnissen halbiert. Für die Partei ist das dramatisch. 

„Daraus die richtigen Lehren zu ziehen, ist gar nicht mal so einfach“, sagt Kretschmann dazu im Nachgang. Er verlangt präzise Daten, eine genaue Wahlanalyse. Für einen Punkt braucht er keine Analyse: „In der Flüchtlingsfrage waren wir lange zu unklar. Die Partei muss das jetzt klären. Die irreguläre Migration begrenzen, die reguläre Migration stärken.“ Und das Personal spiele natürlich eine immer größere Rolle. „Die Frage, wer führt, wer gibt den Ton an bei den Grünen, da müssen wir auf Bundesebene Klarheit schaffen.“ Er werde daran mitwirken, versichert Kretschmann.

Öffentlich aber hält er sich zurück in der aufgeflammten Debatte um eine grüne Kanzlerkandidatur von Wirtschaftsminister Robert Habeck oder Außenministerin Annalena Baerbock. „Ich bin ermahnt worden, dass ich nicht immer so vorpreschen soll, und ich muss auch mal brav sein“, kokettiert der 76-Jährige, der seit Langem als Habeck-Fan gilt. Es ist ohnehin wohl nur eine Scheindebatte nach diesen Wahlergebnissen. „Wer den Schuss nicht gehört hat, sollte zum Ohrenarzt gehen“, sagt auch Cem Özdemir dazu.

Manches ist offensichtlich. Der Klimaschutz ist als Topthema hinter Migration und Sicherheitsthemen zurückgefallen, die Jugend hat Zukunftsängste, zum Teil wählt sie nicht mehr grün, sondern AfD. Die Mittelschicht sorgt sich um ihren Wohlstand. Und die verheerende Darbietung der Ampelregierung zieht die Grünen erst recht nach unten, vor allem Habecks bleischweres Heizungsgesetz-Desaster. Cem Özdemir ist Teil dieser Koalition. Soll er im Südwesten punkten, braucht er für seinen Rucksack neben einer politischen Trendwende vor allem zählbare Erfolge seines Regierungshandelns – und keinen Ballast. 

Cem Özdemir spinnt an diesem Abend geschickt mehrere Fäden

Als Özdemir an diesem Mittwochabend bei den Unternehmern von Südwestmetall doch noch eintrifft, macht er einen recht unbeschwerten Eindruck. Der 58-Jährige federt zügig durch den Saal zur Bühne, dunkler Anzug, Krawatte, drahtig wirkt er und schmal. Er nickt freundlich nach links und rechts, gratuliert artig dem Südwestmetall-Präsidenten Joachim Schulz zu dessen Wiederwahl und grüßt vom Rednerpult als Erstes den „lieben Stefan“. Eine persönliche Geste, aber nicht nur. 

Denn gemeint ist Stefan Wolf, Präsident des Gesamtverbands der Arbeitgeber in der deutschen Metall- und Elektroindustrie. Wolf, Dreitage-Bart, offenes Hemd, sitzt ganz vorne und grüßt herzlich zurück. „Wir sind per Du, kennen uns schon lange“ erklärt Özdemir den Anwesenden. Özdemir stammt bekanntermaßen aus Bad Urach, einem 12.000-Einwohner-Städtchen auf der Schwäbischen Alb. Dort lebt auch Stefan Wolf seit Jahren, gerade erst wurde er bei der Kommunalwahl für die CDU in den Gemeinderat gewählt. 

Die Verbindungen reichen weit und über Ecken zurück. Der türkische Migrantensohn Cem, erzählte Özdemir mal in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hatte einen Jugendfreund, auch ein Gastarbeiterkind, bei dem er einmal in der Woche baden durfte, weil es bei den Özdemirs daheim keine Wanne gab. Der Jugendfreund machte dann eine Ausbildung und stieg später zum Chefbuchhalter und Aufsichtsratsmitglied von Elring-Klinger auf. Ausgerechnet dem schwäbischen Weltunternehmen, dem Stefan Wolf bis 2019 vorstand.

Der Cem und der Stefan, der grüne Landwirtschaftsminister und der mächtige Arbeitgeberboss auf Du und Du, das ist nur einer von mehreren Fäden, die Özdemir an diesem Abend bei der Unternehmerschaft geschickt spinnt. Ein anderer, dass er, Özdemir, schon 2016 als Bundesvorsitzender seiner Partei den damaligen Daimler-Chef Dieter Zetsche eingeladen habe auf den grünen Bundesparteitag, ein empörender Vorgang für viele Grüne mit dem Feindbild Verbrennerauto. Das klinge ja alles ganz gut, sagt später eine Unternehmerin am Saal-Mikrofon, aber wann denn Özdemir sein grünes Parteibuch abgebe? Auch da zieht sich der Minister geschickt aus der Affäre. Er sei ja schließlich gewählt worden, antwortet er, „aber bei uns herrscht eine gewisse Diskrepanz zwischen den Funktionären in der Partei und den Wählern und Mitgliedern.“ Das ist beste Kretschmann-Methodik: Ich bin zwar ein Grüner, aber keiner von diesen Ideologen.

Welchen Plan hat Cem Özdemir für Baden-Württemberg?

Cem Özdemir kann den einnehmenden Auftritt, das beweist er auch vor den Unternehmern. Er redet brillant, selbstkritisch, gibt dem politischen Gegner ordentlich eins mit – „Verkehrs- und Bahndesaster? Wie hießen die letzten drei Bundesverkehrsminister und von welcher Partei waren sie?“ – und argumentiert subtil für die eigene Sache. Da steht einer, der keine Berührungsängste hat und parkettsicher ist, bei den Wirtschaftsbossen ebenso wie beim grünen Klientel. Und einer, der sich bei den Bauerndemos in die Höhle des Löwen wagt und nicht wegduckt. „Großen Respekt“ habe ihm das eingebracht bei den Landwirten, lobt ihn Kretschmann, „das war nicht ohne“. Das bestätigt auch Martin Hahn, Grünen-Landtagsabgeordneter des Bodenseekreises, Agrarexperte und selbst Landwirt, der an diesem Abend ebenfalls Özdemirs Auftritt bei Südwestmetall verfolgt.

Aber kann Özdemir auch Ergebnisse liefern? Was die Europäische Union und die Landwirtschaft betrifft, runzelt Hahn die Stirn. Für den Bund nennt Hahn das Tierhaltungskennzeichnungsgesetz, ein Herzensprojekt von Özdemir, immerhin.

Und welchen Plan hat Özdemir für Baden-Württemberg? Weiß er, wie die Landespolitik tickt? Spätestens ab Spätsommer, wenn Özdemir – derzeit direkt gewählter Bundestagsabgeordneter in einem Stuttgarter Wahlkreis – aufgrund der dann anstehenden Kandidatennominierungen für die Bundestagswahl erklären muss, in die baden-württembergische Landeshauptstadt wechseln zu wollen, braucht es Antworten. Die Entscheidung ist gefallen, auch wenn öffentlich weiter eisern darüber geschwiegen wird. Auch das klärende Gespräch mit dem grünen Landtags-Fraktionschef Andreas Schwarz, der selbst gerne Spitzenkandidat geworden wäre, hat stattgefunden. Keine Seite äußert sich dazu. Dementiert es aber auch nicht.

Für Schwarz, seit Jahren verlässlicher Stabilisator der grün-schwarzen Koalition im Landtag, persönlich eine bittere Pille. Während Özdemir jede landespolitische Erfahrung fehlt, kennt der akribische Detailarbeiter Schwarz jeden Haushaltsposten im Landesetat. Selbst aber ist er weitgehend unbekannt, er macht auch kein großes Gewese um sich. An diesem Vormittag erst hat er Mercedes-Chef Ola Källenius in die grüne Landtagsfraktion eingeladen, in guter konstruktiver Atmosphäre ging es um den Wirtschaftsstandort und die E-Mobilität. Schwarz hängt so etwas nicht an die große Glocke, lud weder zum Pressestatement noch zum Fototermin. An seiner Loyalität zu einem Spitzenkandidaten Özdemir aber wird nicht gezweifelt. „Wenn es einer hinbekommt, das absolut professionell zu machen, dann der Andi“, sagt einer aus der Grünen-Fraktion.

Bei den Grünen machte sich der Realo Özdemir nicht nur Freunde

Und auch die grünen Spitzenfrauen im Südwesten haben sich, mehr oder weniger hadernd, damit abgefunden, dass die Grünen in Baden-Württemberg wohl wieder auf einen Mann setzen. Keine ist aus der Deckung getreten. „Seine neue Präsenz im Land ist ja nicht zu übersehen“, sagt eine von ihnen dieser Tage mit resigniertem Unterton. Dabei hätte es Namen gegeben, Umweltministerin Thekla Walker etwa. Aber auch die grüne Spitzenfrau räumt ein: Özdemir ist der aussichtsreichste Kandidat. An seine Bekanntheit kommt keiner und keine heran.

Özdemirs Erfahrungs- und Themenhorizont ist breit, er war Bundestags- und Europaabgeordneter, lange Parteichef, arbeitete sich in die Verkehrspolitik ein, nahm dann das ihm völlig fachfremde Agrarressort an und begab sich in die Schweineställe der Massentierhalter und Bauernlobbyisten. Geschenkt bekam er nichts. Denn in der Partei machte sich der Realo nicht nur Freunde, er gilt als jemand, der auch auf konstruktive Kritik gekränkt reagieren kann. Manche Realos fremdeln mit der wiederkehrenden Erzählung von Özdemirs Aufstiegsgeschichte als Migrantensohn, die in kaum einer seiner Reden fehlt. Und dass Özdemir jüngst sogar angedeutet hat, den umstrittenen Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer wieder die Tür zur Partei zu öffnen, macht Teile der Südwest-Grünen fassungslos. „Statt das wir froh sind, dass hier jetzt endlich Ruhe ist“, sagt ein Mitglied des Landesvorstands.

An den Inhalten müssen sie jetzt arbeiten in Özdemirs Umfeld. Soll er einen Kretschmann 2.0 geben? Wo sich absetzen und eigenes Profil entwickeln? Über sein Beraterteam, das ihn mit dem landespolitischen Einmaleins vertraut machen soll, wurde in Medien bereits öffentlich spekuliert – unter anderem soll der Berliner Südwest-Statthalter, Parteistratege und Kretschmann-Vertraute Rudi Hoogvliet dazugehören, Florian Hassler, Staatssekretär im Staatsministerium oder auch Kretschmanns Vize-Regierungssprecherin Caroline Blarr. Auf das Team Özdemir wartet jedenfalls fast zwei Jahre vor der nächsten Landtagswahl in Baden-Württemberg viel Arbeit.

Es kommt wohl zum Duell zwischen Özdemir und CDU-Landeschef Manuel Hagel

Denn sobald die Nachricht offiziell ist, verschiebt sich in der Landespolitik der Fokus sofort auf das kommende Duell zwischen Özdemir und dem 36-jährigen CDU-Landtagsfraktions- und Landesvorsitzenden Manuel Hagel, der als nächster Spitzenkandidat seiner Partei als gesetzt gilt. Özdemir muss dann sprechfähig sein zu den wichtigsten Themen in Baden und Württemberg. Die Umfragen sehen die CDU derzeit weit vor den Grünen, ungeachtet der Tatsache, dass auch der CDU-Fraktionschef kaum bekannt ist. Aber Hagel hat bereits reklamiert, „das politische Erbe Winfried Kretschmanns“ werde bei der CDU in guten Händen sein.

Ein schlauer Zug. Ein Selbstläufer aber wird das für die CDU nicht. Darauf setzt nicht zuletzt Winfried Kretschmann. „Landtagswahlen sind ja erst in mehr als eineinhalb Jahren. Dann rennen ganz andere Säue durchs Dorf als heute“, sagt der Noch-Landesvater. Und er weiß: Mit Säuen kennt sich Cem Özdemir mittlerweile bestens aus. Vegetarier hin oder her.

 
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