Zehn Jahre lebte Philipp F. schon in Hamburg, fernab seiner Allgäuer Heimat, als ihn die Vergangenheit einholte. Ein sehr sensibles Kind soll er gewesen sein, früher, in Kempten. Er wuchs dort in einer Familie auf, die das private Umfeld als liebevoll beschreibt – und die offenbar fest in einer Gemeinde der Zeugen Jehovas verankert war. Der Vater etwa diente einst als "Ältester", ein Amt mit Verantwortung, das nur ausüben darf, wer als besonders vorbildlich gilt. Sohn Philipp jedoch schlug nicht unbedingt den Weg ein, der in der Weltanschauung der Religionsgemeinschaft als idealtypisch gilt. Er wurde nicht getauft, ein Verwandter bezeichnet ihn als freiheitsliebenden jungen Mann "mit eigenen Gedanken und kritischer Haltung." Und so verließ er nach seinem 18. Geburtstag das Allgäu, mit Anfang 20 zog es ihn nach Hamburg– und zehn Jahre später zurück zu den Zeugen Jehovas.
Wie, ist nicht verbrieft, aber lange nach seinem Neuanfang in Hamburg muss Philipp F. erneut mit der Religionsgemeinschaft in Kontakt gekommen sein. Und dieses Mal verfing die Lehre offenbar. F. trat einer Gemeinde mit rund 60 Mitgliedern bei. „Er hat dann aber schnell durchschaut, wie das System der Zeugen Jehovas funktioniert, dass er belogen worden war", sagt Heinrich O. (Name von der Redaktion geändert), naher Verwandter von Philipp F. "Einmal sagte er mir: ,Wenn ich gewusst hätte, was hinter den Kulissen passiert, dann wäre ich nie beigetreten.‘" Nach eineinhalb Jahren sei er dann wieder ausgetreten. Zur Art des Abschieds hieß es bislang vonseiten der Behörden, er sei „freiwillig, aber nicht im Guten“ vonstatten gegangen.
Amoklauf in Hamburg: Mutmaßlicher Täter kehrte zu Zeugen Jehovas zurück
Nun deutet ein Schriftdokument, das unserer Redaktion exklusiv vorliegt, darauf hin, wie tief der Riss zwischen Philipp F. und der Religionsgemeinschaft tatsächlich verlief. Anfang Januar 2022 – also kurz nach dem Austritt– schrieb F. eine E-Mail, adressiert an zwei Personen, offenbar Vertreter der Gemeinde. "Ich habe mir nochmals eingehend Gedanken um die Geschehnisse der letzten zwei Jahre gemacht", leitet F. seine E-Mail ein. Auf Grundlage dieser "Gedanken" bitte er um "umgehende Kontaktaufnahme" mit der deutschen Zentrale der Zeugen Jehovas in Selters (Taunus) – "mit der Bitte und Aufforderung zugleich, dass das von mir "gespendete" Geld mit sofortiger Wirkung zurückerstattet wird."
Der Exkurs, zu dem F. in der Folge ansetzt, mutet religiös-krude an. Basis seiner Forderung, schreibt er, bilde das Strafgesetzbuch, "wonach sich die Lehre der Zeugen Jehovas auf eindeutig strafbaren Handlungen im Geltungsbereich der Bundesrepublik Deutschland und damit auch der Europäischen Union gründet." Er führt auch aus, was er mit diesen "strafbaren Handlungen" meint. Er verweist einerseits auf den "Sündenfall" – also den biblischen Verstoß von Adam und Eva gegen das Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Dieser sei durch "anglistische" – F. meint wohl "arglistige" – Täuschung "seitens der geistigen Seite" entstanden, was wiederum in Betrug münde.
Forderte Philipp F. Geld von Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas zurück?
"Zudem, um die Sache richtig konkret zu formulieren, ruft Jesus Christus öffentlich zum bestialischen Mord aus (gemeint ist wohl: "auf", d. Red.)", führt F. aus und verweist unter anderem auf die Bibel, Evangelium nach Matthäus, Kapitel 18. Dort heißt es: "Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde." Hier greife, schreibt F. in seiner Mail, eindeutig Paragraf 211 im Strafgesetzbuch – also der Paragraf, in dem Mord geregelt ist.
Auf dieser Grundlage, schreibt F., müsse "der Betrag sofort zurückerstattet werden. Ich unterstütze keine terroristische Organisation, die Mord aus niederen Beweggründen duldet und intern als auch öffentlich unterstützt." Und weiter: "Für mich stellen die Zeugen Jehovas und all deren Mitglieder, auf dieser juristischen Basis, Schwerstkriminelle im Sinne des Strafgesetzbuches dar." Noch eine Bitte um "sofortige Richtigstellung", die zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf baldige Antworte – dann verabschiedet sich F. "mit freundlichen Grüßen".
Mögliches Motiv: Philipp F. aus dem Allgäu hegte Wut auf Zeugen Jehovas
Nach Informationen unserer Redaktion soll Philipp F. nach seinem Ausstieg mehrfach E-Mails an Vertreter der Zeugen Jehovas geschrieben haben, ein Verwandter spricht von "ziemlich wütenden Nachrichten". Ob und inwiefern die Religionsgemeinschaft darauf einging, ist nicht bekannt. Am vergangenen Donnerstag machte sich Philipp F. auf den Weg zum Sitz der Hamburger Gemeinde. Er tötete mutmaßlich sieben Personen und dann sich selbst. Äußerungen aus seinem Umfeld deuten darauf hin, dass er psychisch krank war und unter "religiösen Wahnvorstellungen" litt.