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IMMENSTADT/KARLSRUHE
Allgäuer Islamistin ist keine Terroristin
Screenshot-Youtube-Propaganda_2       -  Wann sind Kriegstouristen Terroristen? Strafrechtlich ist das schwierig zu beurteilen. Die Allgäuer Islamistin Andrea B. bleibt in diesem Punkt unverurteilt. Der Bundesgerichtshof sah den Terrorvorwurf nicht als erfüllt an. Propaganda lockt jedoch weiterhin Islamisten in den Krieg. Unser Foto zeigt einen Videoausschnitt. Der erhobene Zeigefinger ist ein Symbol der Islamisten: ein Gott, ein Staat.
Foto: Screenshot: Youtube | Wann sind Kriegstouristen Terroristen? Strafrechtlich ist das schwierig zu beurteilen. Die Allgäuer Islamistin Andrea B. bleibt in diesem Punkt unverurteilt.
reda
 |  aktualisiert: 05.11.2015 03:48 Uhr

Bundesgerichtshof, Dienstag, 9.15 Uhr: Als in Karlsruhe die Richter zusammentreten, ist es nichts weniger als eine Richtungsentscheidung im Kampf gegen den islamistischen Terror. Die Richter sagen: Andrea B. aus dem Oberallgäu, die mit ihren Töchtern in den Syrienkrieg zog, ist keine Terroristin. Obgleich in ihrem Haus in Syrien eine Maschinenpistole, ein Sturmgewehr und Handgranaten lagerten. Obwohl sie wusste, wie sie damit umgehen würde und mit Waffengewalt drohte. Wegen Kindesentzugs bleibt es bei eineinhalb Jahren Haft auf Bewährung. Es ist der erste Karlsruher Richterspruch zur Reise einer Deutschen in den syrischen Terrorkrieg. Ohne die betroffene Islamistin.

Im Rathaus ihres letzten Wohnorts im Allgäu hat die 30-Jährige vor Monaten von Reiseplänen gesprochen. Sie wolle in die Türkei. Die Behörden verhängten ein Ausreiseverbot. Ist Andrea B. überhaupt noch in Deutschland – oder wieder im Kriegsgebiet?

Die Sicherheitsbehörden mauern. Die Staatsanwaltschaft München I war nach dem ersten Urteil im Februar in Revision gegangen.

Die Verwandlung der katholischen Verkäuferin beginnt schleichend im Jahr 2012. Sie lebt damals in Immenstadt, einer Oberallgäuer Kleinstadt. 14 000 Einwohner. Die jüngere ihrer Töchter ist ein Jahr alt. Die Große ist fünf. Vom Vater der Kinder lebt Andrea B. getrennt. Angeblich hat sie damals Kontakt zur muslimischen Gemeinde des Orts. Sie habe dort geputzt, heißt es.

Bald aber ist ihr der Islam, der im Oberallgäu praktiziert wird, nicht mehr radikal genug. Andrea B. sieht sich im Internet um. Sie gerät in den Strudel islamistischer Propaganda. Unbemerkt von der Öffentlichkeit tobt im Internet bereits die Schlacht der Syrienkämpfer. Terrorkrieger in spe werben in sozialen Netzwerken wie Facebook um Geld, Waffen und Bräute für einen islamistischen Gottesstaat in Syrien. Bezahlt wird über internationale Geldtransferdienste und Mittelsmänner in der Türkei. Dort ist die Grenze zum Kriegsgebiet löchrig. Dubiose islamistische „Wohltätigkeitsvereine“ organisieren Spendenveranstaltungen und umstrittene „Hilfstransporte“ ins Kriegsgebiet.

Bei Andrea B. aus Immenstadt verfängt die Propaganda. Sie beginnt sich in islamische Gewänder zu hüllen. Selbst im Hochsommer geht sie nicht mehr ohne Kopftuch und lange Kleidung auf die Straße, erinnern sich Nachbarn. Über das Internet lernt Andrea B. eine Frau aus Hessen kennen. Es ist die islamische Ehefrau des mutmaßlichen hessischen Terrorkämpfers Soufiane K., der noch bis Mitte Januar wegen Terrorvorwurfs in Frankfurt vor dem Oberlandesgericht steht.

Seine Frau macht Andrea B. ein Angebot: Sie soll ebenfalls nach Syrien kommen. Als Zweitfrau. Soufiane K. lebt seit Juli 2013 im Kriegsgebiet. Er hat beim El-Kaida-Ableger Jabhat al-Nusra angeheuert, soll sich Handgranaten besorgt haben und eine Kalaschnikow AK47. Von Wachdiensten für Terroristen und einem Kampfeinsatz sprechen die Ankläger.

Andrea B. nimmt das Angebot seiner ersten Ehefrau an. Im Januar 2014 verlässt sie Deutschland. Ihre Töchter, drei und sieben Jahre alt, nimmt sie mit. Der leibliche Vater erstattet im Oberallgäu Anzeige. Die Staatsanwaltschaft München I beginnt zu ermitteln. Nach dem Anti-Terrorparagrafen 89a, den es erst seit einigen Jahren gibt. Doch die Beweisführung ist schwierig. Wer ist tatsächlich Terrorist, wer hilft humanitär, wer kann bestraft werden? Bis März 2014 ist in Deutschland nicht einmal eine Haftstrafe nach dem Antiterrorparagrafen verhängt worden.

Andrea B. verbringt nur vier Monate im Krieg, wechselt während dieser Zeit aus Angst mehrfach den Wohnort. Am 23. Mai 2014 kehrt sie mit ihren Töchtern zurück. Um 5.30 Uhr klicken am Flughafen Frankfurt die Handschellen. Der Vater nimmt seine Töchter in Empfang. Seine Ex-Freundin hat das Sorgerecht verloren. Andrea B. kommt nach Memmingen in Untersuchungshaft. Ihre Gesinnung und ihren selbst gewählten islamischen Namen, „Umm Melisa“ behält sie. Am 26. August 2014 posten deutsche Islamisten im Internet einen Aufruf: „Free Umm Melisa“ – „befreit Umm Melisa“. Sechs Monate später veröffentlicht die Staatsanwaltschaft München die Anklage gegen die 30-Jährige. Am 25. Februar wird sie wegen Kindesentzugs verurteilt. Die Staatsanwaltschaft geht in Revision.

Der Bundesgerichtshof (BGH) weist sie zurück und bestätigt das erste Urteil aus München, sagt Bundesgerichtshof-Sprecherin Andrea Haasters. Andrea B. und ihr Anwalt seien nicht zum Termin in Karlsruhe erschienen. Offiziell gibt es keine Angaben zu ihrem Verbleib. Die Kinder allerdings sollen sich in Sicherheit befinden. Beim leiblichen Vater und im Allgäu.

Der Krieg in Syrien und Terror aus Bayern

Salafisten: 600 Männer und Frauen in Bayern werden der Szene radikaler, rückwärtsgewandter Muslime zugerechnet (2011: 150 Personen). Sie sprechen sich für das islamische Rechtssystem der Scharia aus und lehnen Demokratie ab. Ausreisen: 70 Islamisten aus Bayern sind nach Syrien und in den Irak ausgereist oder planen es (Zahl enthält Ausreiseverbote). Etwa 25 halten sich aktuell in Syrien auf, darunter vermutlich der im Oktober 2014 in die Türkei ausgewiesene Kemptener Islamist Erhan A. Er soll im Dienst einer Terrorgruppe stehen. Unserer Zeitung hat zuletzt am 16. Oktober Kontakt zu ihm aufnehmen können. Rückkehrer: Rund 20 Männer und Frauen aus Bayern sind aus dem Krieg zurückgekehrt. Tote: Sieben bayerische Islamisten sollen ums Leben gekommen sein, darunter der im Januar 2014 getötete Kemptener IS-Kämpfer David G. Regionale Schwerpunkte: Der bayerische Verfassungsschutz zählt München, Nürnberg, Weiden, Regensburg, Augsburg und Aschaffenburg zu den Schwerpunkten salafistischer Umtriebe. Lange galten zudem Ulm und Neu-Ulm sowie Kempten und das Oberallgäu als Brennpunkt. Überregionale Schwerpunkte: Die Bundesländer mit den meisten Ausreisen sind (Stand Juni) Nordrhein-Westfalen (190 Ausreisen), Hessen (120), Berlin (90). In Bayern waren es zu diesem Zeitpunkt 45 Ausreisen.

Terrorgruppen: Neben dem Islamischen Staat (IS) kämpfen Deutsche bei den Gruppen Jabat al-Nusra, Junud al-Sham, Ahrar al-Sham, Ansar al-Sham. TEXT: AZ

 
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