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Kempten
124 Briefe von einem Mörder
Seit sieben Jahren erhält Sonja Kiechle, 49, Post von einem Mörder. 124 Briefe hat er ihr geschrieben. Es sind Botschaften aus der Todeszelle des Hochsicherheitsgefängnisses Polunsky Unit im US-Bundesstaat Texas.
Sonja Kiechle aus Kempten schreibt einem Gefangenen in den USA. Er sitzt in Texas im Todestrakt und soll bald hingerichtet werden. Die Kemptenerin hat eine Pedition gestartet
Foto: Ralf Lienert | Sonja Kiechle aus Kempten schreibt einem Gefangenen in den USA. Er sitzt in Texas im Todestrakt und soll bald hingerichtet werden. Die Kemptenerin hat eine Pedition gestartet
Bearbeitet von Tobias Schaumann
 |  aktualisiert: 25.05.2021 02:15 Uhr

Seit sieben Jahren erhält Sonja Kiechle, 49, Post von einem Mörder. 124 Briefe hat er ihr geschrieben. Seitenlang, in gestochener Handschrift und englischer Sprache. Es sind Botschaften aus der Todeszelle des Hochsicherheitsgefängnisses Polunsky Unit im US-Bundesstaat Texas. Dort droht Häftling Nummer #999379 die Hinrichtung nach 20 Jahren Haft. Durch ihre langjährige Brieffreundschaft kennt Sonja Kiechle den Menschen hinter der Zahl.

Sie tut alles, um die für 19. Mai angesetzte Exekution des geständigen Mörders Quintin Jones, 41, in letzter Minute zu verhindern. Der US-Amerikaner hat im Alter von 20 Jahren seine Großtante im Drogenrausch erschlagen. „Er hat die Tat gestanden und bereut sie zutiefst. Er ist heute ein völlig anderer Mensch, als er es zum Zeitpunkt des Verbrechens war. Geordnet, höflich, bescheiden und emphatisch. Er liest viel, nimmt in jedem Brief Anteil an meinem Leben. Er ist ein echter Freund für mich geworden“, sagt Sonja Kiechle, die mit ihrem Lebensgefährten in Kempten wohnt.

Ihre Partnerschaft hat sie gleich im ersten Brief an Jones erwähnt. Sie wollte damit zum Ausdruck bringen, dass sie an einer Brieffreundschaft interessiert ist, aber keinerlei romantische Absichten hat. Auf der Internetseite der „Initiative gegen die Todesstrafe“ hatte sie gelesen, dass er sich über eine Brieffreundschaft freuen würde. Anfang 2014 schrieb sie ihm ein paar Zeilen.

Zu ihrer Überraschung bekam sie einen mehrseitigen Brief zurück. Seither befinden sich die beiden im Dialog, obwohl sie sich nie begegnet sind - und sie auf den ersten Blick Welten trennen. Und damit ist nicht nur die Entfernung von knapp 9000 Kilometern gemeint.

Sonja Kiechle wuchs im Allgäu auf, machte eine kaufmännische Ausbildung und arbeitet heute im Vertrieb eines Unternehmens für Naturprodukte. Sie liest viel und versorgt Jones mit Büchern. „Der Schwarm“ von Frank Schätzing ist darunter. Oder „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. „Speziell dieses Buch hat ihn sehr beeindruckt“, erzählt Sonja Kiechle. Vielleicht, weil es darin um Menschlichkeit und Freundschaft geht.

Quintin Jones hat wenig davon erlebt. Er kam als Kind einer drogensüchtigen Mutter im County Tarrant im Norden von Texas auf die Welt, erlebte eine traumatische Kindheit, wurde misshandelt und geriet früh auf die schiefe Bahn. Mit acht nahm er erstmals Drogen, mit 13 begann er zu dealen, rutschte immer tiefer ab. Als andere ihre Ausbildung begannen, konsumierte er Crack, später Heroin.

Dann geschah das Unfassbare: Bei einem Raubüberfall erschlug Jones am 11. September 1999 seine Großtante Berthena Bryant (83) mit einem Baseballschläger. Noch am selben Tag wurde er verhaftet, durchlebte einen kalten Entzug im Gefängnis und wurde eineinhalb Jahre später zum Tode verurteilt. Seit 20 Jahren ist er im „Death Row“, dem Todestrakt, des Hochsicherheitsgefängnisses Polunsky Unit inhaftiert. Die Zelle ist kleiner als zehn Quadratmeter. Darin befinden sich Bett, Toilette und ein Waschbecken. Durch ein kleines vergittertes Fenster kann Jones erkennen, ob es Tag oder Nacht ist. Das war’s. „Andere wären längst verrückt geworden“, sagt Sonja Kiechle. „Doch er erträgt das unglaublich tapfer. Quin betont immer wieder, dass er lebenslang als Strafe verdient hat.“

Den Tod hingegen wünschen dem geläuterten Verbrecher nicht einmal die Angehörigen des Mordopfers. Sie haben sich einer Petition zur Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe angeschlossen. Seine Exekution, so schreiben sie, würde ihnen erneutes Leid zufügen. Sie haben ihm die Tat mit Blick auf seine glaubhafte Wandlung verziehen. Ihre Hoffnungen ruhen nun auf dem republikanischen Gouverneur Greg Abbott, der in der Öffentlichkeit gerne seine christlichen Wurzeln betont.

Wird er die Hinrichtung in letzter Minute stoppen? „Ich gebe die Hoffnung nie auf“, sagt die Allgäuerin Sonja Kiechle, die alle 124 Briefe von Quintin Jones säuberlich in einer Box aufbewahrt hat. Deren Farbe ist grün.

Eine Online-Petition gegen die Hinrichtung von Quintin Jones läuft auf www.change.org unter dem Namen „Clemency for Quin“

 
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