Es regnet. Sanft aber beständig seilen sich die Tropfen wie Bindfäden aus dem Grau des Himmels ab. Nichts Ungewöhnliches in Wimbledon. Auch in diesem Jahr gibt sich Wettergott Petrus typisch englisch und sorgt mit dem Nass von oben für reichlich Durcheinander in der Qualifikation bei den All England Championships. Doch dieses lausige Wetter trübt die Stimmung von Miriam Bley nicht im Geringsten. Die Profi-Tennisschiedsrichterin weilt wieder für zwei Wochen an einem „magischen“ Ort, der ihr Herz höher schlagen lässt und ihr beste Laune beschert. Es ist offensichtlich ein ganz besonderer Zauber, der dem dritten Grand Slam Turnier des Jahres im Londoner Stadtteil innewohnt. Nicht umsonst wird es gerne als prestigeträchtigstes Tennisturnier der Welt bezeichnet. Deshalb spürt auch Bley jedes Mal einen Mix aus freudiger Erregung, Spannung und Ehrfurcht, je näher der Wettbewerb rückt.
„Beim Einmarsch in Uniform auf den heiligen Rasen läuft einem immer wieder eine Gänsehaut über den Rücken“, beschreibt die Veitshöchheimerin das Kribbeln im Bauch, das dem bei einer Karussellfahrt ähnelt. Der Höhepunkt im Jahreslauf ist und bleibt für sie eben das Turnier im „Wohnzimmer“ von Boris Becker. „Hier ist alles ein bisschen traditioneller und von besonderem Flair durchzogen“, schwärmt eine, die bei der Ausübung ihres Berufes eher ein Pokerface aufsetzt, denn Emotionen zeigt. Neutralität hat oberste Priorität und für Gefühle ist kein Platz.
Aber es passieren durchaus auch kuriose Dinge auf dem satten Grün. So wie 2016, als Bley in der ersten Runde des Hauptfeldes die Partie zwischen den beiden Qualifikanten Matthew Barton (Australien) und Albano Olivetti (Frankreich) schiedste. Nicht nur, dass es Bleys erstes Fünf-Satz-Match war, es war wohl auch das bisher längste. Das Match dauerte sage und schreibe drei Tage lang aufgrund vieler Regenunterbrechungen und endete mit 14:12 im fünften Satz für Barton. Am ersten Tag fand mit ihm eine lustige Diskussion über seine graue Unterhose statt, denn auch die muss – wegen der Etikette – auf dem heiligen Rasen weiß sein.
Tags darauf verkündete Barton stolz, dass er sich weiße Unterwäsche gekauft habe.
Sitzt Bley auf dem Stuhl, bleiben ihr nur Bruchteile von Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen. Und die ist unwiderruflich. War der Ball im Aus? Muss der Linienrichter gar überstimmt werden? Hinzu kommen das Zählen und gleichzeitige Verbuchen der gespielten Punkte im Computer. Da ist höchste Konzentration gefragt. „Irgendwann bin ich im Tunnel. Dann zählen nur noch der Platz und die Spieler“.
Schon vor dem Match viel zu tun
Aber schon vor dem Match gibt es eine ganze Menge zu tun. Zu den Aufgaben des Stuhlschiedsrichters zählt es, das Netz zu messen, für genügend Bälle zu sorgen, die Versorgung mit Getränken und Bananen zu gewährleisten und zu kontrollieren, ob ausreichend Handtücher vorhanden sind. Auf einigen Belägen gehört noch die Inspektion des Platzes auf Bespielbarkeit hinzu. Als Schiedsrichterin hat Bley schon vielen der Stars der Tennisszene in die Augen geschaut oder ihnen am Ende die Hand geschüttelt: Venus Williams, Simona Halep, Roberta Vinci, Madison Keys. Oder sie von der Linie aus beobachtet wie 2014 Wawrinka gegen Nadal im Finale der Australien Open.
„Einen besonders ausgeprägten Gerechtigkeitssinn braucht es für diesen Beruf nicht“, findet Bley. Dafür starke Nerven, ein gutes Auge und diplomatisches Geschick. Und die Liebe zum Tennissport. Die hat Miriam Bley in ihrer tennisverrückten Familie quasi in die Wiege gelegt bekommen. Früher war sie selbst beim TC Weiß-Blau Würzburg erfolgreich und hatte es 2007 sogar bis in die Zweite Bundesliga geschafft. Als Schiedsrichterin fing Bley mit 20 Jahren ganz unten an. „Ich bin da hineingeschlittert, ohne zu wissen, was man alles erreichen kann.“ Nach dem erfolgreichen Lehramtsstudium (Sport und Englisch) hat sie die Profi-Laufbahn eingeschlagen, das Klassenzimmer mit dem Schiedsrichterstuhl getauscht und die Entscheidung keine Sekunde bereut. Die erste Stufe auf internationalem Parkett war das „White Badge“, das berechtigt, als Linienrichterin bei Grand Slams eingesetzt zu werden. Das „Bronze Badge“ ermöglicht Einsätze in der Qualifikation der großen Turniere und mit dem „Silver Badge“ stehen einem dort auch die Hauptfelder offen.
Diese Auszeichnung wurde Bley Ende 2014 verliehen. Es ist die zweithöchste für Stuhlschiedsrichter, die man nicht erwerben, sondern sich nur aufgrund von guten Leistungen verdienen kann. Am Ende eines jeden Jahres tagt ein international zusammengesetztes Gremium aus Vertretern von ATP (Association of Tennis Professionals), WTA (Women Tennis Association), ITF (International Tennis Federation) und der Grand Slams (die vier bedeutendsten Turniere der Welt) in London und berät sich. Auf jeden Fall ist Bley mächtig stolz, war sie doch zum damaligen Zeitpunkt die einzige Frau unter insgesamt fünf Silver-Badge-Inhabern in Deutschland.
Gut 30 Wochen im Jahr unterwegs
Aufgrund ihrer Qualifikation ist Bley heute gut 30 Wochen im Jahr unterwegs – einmal rund um den Erdball über alle Kontinente hinweg. Das klingt nicht unbedingt nach vorgefasstem Berufsziel. Und doch passt die derzeitige Arbeitssituation gut mit Bleys Lebenswunsch zusammen: die Welt zu erkunden und irgendetwas mit Tennis machen. Reich wird man zwar nicht davon, „kann aber ganz gut leben“, verrät sie mit einem Augenzwinkern. Die Reisekosten werden natürlich komplett übernommen, was die Unterbringung in guten Hotels beinhaltet. Dort ist sie zuweilen gemeinsam mit Freund Tom untergebracht – ebenfalls Tennis-Schiedsrichter.
Den Australier lernte sie bei einer Fortbildung kennen und beide sind seit fünfeinhalb Jahren ein Paar. Dank ihm hat sie den Luxus zweier Zuhause. Eines in Veitshöchheim und eines am anderen Ende der Welt in Toms Heimat Melbourne.
Der Jahreslauf 2017 hat für die 32-Jährige viele Stationen: Brisbane, Australian Open, Davis Cup, Fed Cup in Italien, Budapest, Indian Wells, Miami, Mexiko, München, Madrid, Heilbronn, Nürnberg, Veitshöchheim, Holland, Wimbledon, Schweden, Washington, Toronto, US Open, Veitshöchheim, Asien. Dann ist es Mitte November „und der Koffer geht mir schon mal auf den Wecker“, sagt Bley und lacht dazu. Auch wenn sie an vielen Stätten unterwegs ist, wo andere Ferien machen – mit Urlaub hat ihr Beruf wenig zu tun. Ganz im Gegenteil. Zuweilen ist er ein echter Knochenjob. Da kann es schon mal sein, dass der Einsatz – zwar mit Pausen – an einem Tag mehr als zwölf Stunden dauert. Wie schon auf der Linie bei den Australien Open. „Da bist du wie tot“, erinnert sich die Globetrotterin.
Es gibt Menschen, die mögen es nicht, wenn man ihnen bei der Arbeit auf die Finger schaut. Bley hat damit kein Problem, wenn sie ihre Entscheidungen unter den Argusaugen Tausender im Stadion oder gar Millionen an den Fernseh-Bildschirmen fällt. Das war vor zwei Jahren bei den US Open noch nicht so. „Ich bin fast gestorben“, erinnert sie sich an die imposante Kulisse des berühmten Arthur-Ashe-Stadions, das rund 22 000 Zuschauern Platz bietet. „Der Center Court ist einfach furchteinflößend.“
Es fehlt an Schiedsrichter-Nachwuchs
Mittlerweile ist sie in allen Turnierkategorien bis hin zu den Grand Slams im Einsatz. Rund ein halbes Jahr im voraus muss sie sich dafür bewerben und wird daraufhin eingeteilt. Welches Match allerdings zu welcher Zeit am Turniertag ihres ist, erfährt sie erst am Abend zuvor. Steht keine eigene Partie auf dem Plan, beurteilt Bley andere Schiedsrichter. „Das mache ich gerne“, sagt die Blondine, die der Deutschen Tennis-Schiedsrichter-Vereinigung angehört und dort Leiterin der Ausbildungskommission ist. „Dieses Engagement liegt mir am Herzen“, betont Bley, denn eines fehlt: der Nachwuchs. Sie hofft auf steigendes Interesse für das Schiedsrichterwesen und wirbt so oft wie möglich dafür.
Auf jeden Fall liebt Bley ihren Beruf. Es wäre die Krönung, die höchste Auszeichnung – das „Gold Badge“ – von der internationalen Kommission verliehen zu bekommen: gewissermaßen der Ritterschlag für Tennis-Schiedsrichter. Dann wäre auch die Erfüllung des größten Traums von Miriam Bley möglich: Einmal bei einem Finale auf jenem heiligen Rasen von Wimbledon oben auf dem besten Platz im Stadion zu sitzen und das Spiel aus einer Sitzposition von 1,83 Metern Höhe zu leiten.