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Würzburg
Der Fußball-Botschafter blickt zurück
Achim Muth
 |  aktualisiert: 17.10.2017 10:27 Uhr

Christoph Metzelder (35) gilt als Fußball-Intellektueller, als einer, der Profi auf dem zweiten Bildungsweg wurde – nachdem er in seiner Heimatstadt Haltern am See das Abitur abgelegt hatte. Der Mann spricht druckreif und sein Horizont endet nicht an der Torauslinie. Auch deshalb wurde der Westfale in seiner Zeit als Nationalspieler gerne als Sprachrohr des Teams eingesetzt, weil er in heiklen Situationen stets den richtigen Ton fand. So war es auch bei der WM 2006 in Deutschland: Der Abwehrspieler war es, der nach dem Auftaktspiel die Fans zum Schulterschluss aufforderte – und damit in Deutschland eine Debatte über den Umgang mit nationalen Symbolen lostrat. Plötzlich hingen sich Blondinen schwarz-rot-goldene Blumenkränze um den Hals und selbst Alt-68er sangen im Stadion die Nationalhymne mit. Mit Dortmund (2002) und Real Madrid (2008) wurde Metzelder Meister, mit Schalke gewann er 2011 den DFB-Pokal. Seit seinem Karriereende 2013 arbeitet er als TV-Experte, führt seine Stiftung und leitet seinen Heimatverein TuS Haltern als Präsident. Im Interview spricht Christoph Metzelder über das politische Erbe des Sommermärchens und die German-Wings-Katastrophe 2015, die seine Heimatstadt mit Wucht traf.

Frage: Herr Metzelder, zehn Jahre liegt das Sommermärchen nun schon wieder hinter uns. Mit welchen Erinnerungen blicken Sie zurück?

Christoph Metzelder: Vieles verblasst, aber in der Retrospektive war es die schönste und emotionalste Zeit meiner Karriere, auch wenn der Titel am Ende gefehlt hat.

Sie haben als Spieler einige Trophäen gewonnen, weshalb war diese WM die schönste Zeit Ihrer Karriere?

Metzelder: Weil es etwas Besonderes ist, eine WM im eigenen Land erleben zu dürfen. Das ist nicht jedem Spieler und jeder Generation vergönnt. Spätestens nach dem zweiten Gruppenspiel gegen Polen, das für mich ein Schlüsselmoment war, haben wir uns in einen Rausch gespielt. Es kam zu einer besonderen Interaktion zwischen Fans, dem ganzen Land und uns, die einmalig war und einen Strahleffekt weit über das Turnier hinaus hatte. Das alles hat uns auf eine Reise mitgenommen, die dann erst durch die Italiener unsanft im Halbfinale gestoppt wurde. Spätestens nach dem Sieg gegen Argentinien im Viertelfinale hatten wir daran geglaubt, dass wir den Titel holen können.

War 2006 der Beginn einer Entwicklung, die letztlich 2014 auch zum Titel geführt hat?

Metzelder: Ja, ich glaube schon, dass vieles mit uns begonnen hat. Da muss man ganz besonders Jürgen Klinsmann erwähnen, der personell, strukturell und von der Spielidee revolutionäre Ideen hatte. Die Früchte ernten wir jetzt. Wobei ich vor allem auch den Schulterschluss des deutschen Fußballs nach der EM 2000 hervorheben möchte, als mit der Etablierung von Nachwuchsleistungszentren im deutschen Profifußball die richtigen Konsequenzen gezogen wurden. Denn am Ende ist ein Bundestrainer nur so gut wie die Spieler, die ihm die Vereine zur Verfügung stellen. Heute haben wir eine tolle Generation an Fußballern, die diesen Weg 2014 mit dem WM-Titel gekrönt hat.

Dabei war die Begeisterung bei der WM 2006 nicht absehbar, im Vorfeld gab es viel Kritik.

Metzelder: Richtig. Ich erinnere mich an unsere Vorbereitung, als es im März nach der 1:4-Niederlage gegen Italien ja fast schon eine politische Diskussion darüber gab, ob und wie es weitergeht.

Später, nach dem 2:2 gegen Japan in Leverkusen wenige Tage vor WM-Beginn, riefen uns Fans auf dem Weg zum Bus zu: ,Wie wollt ihr das schaffen?‘ Dann kam das erste Spiel gegen Costa Rica, das zwar 4:2 für uns ausging, aber bei Weitem nicht souverän war. Auf einer Pressekonferenz nach diesem Spiel habe ich gesagt, dass wir es allein mit unserer Qualität nicht werden schaffen können, sondern dass wir mehr brauchen. Nämlich die Begeisterung der Menschen, am Ende war das Tor von Oliver Neuville gegen Polen im zweiten Spiel die Initialzündung.

Was dann geschah, war wunderbar: Deutschland entpuppte sich als glänzender Gastgeber, der das DFB-Team, aber auch alle anderen Teilnehmer feierte.

Metzelder: Damit hatte keiner von uns gerechnet. Wir waren ja fokussiert auf unsere Leistung, die anfangs noch wackelig war. Es war nicht abzusehen, dass wir Dritter werden. Wir kamen aus einer Zeit, in der vor Spielen keiner die Hymne mitgesungen hat. Das war aber das, was dann vor allem in Dortmund vor dem Polen-Spiel auf unfassbare Weise passiert ist. Für mich hatte der Moment der Hymne immer eine ganz besondere Bedeutung, weil er der Inbegriff eines Länderspiels ist und weil er sich damit abhebt von einem normalen Bundesligaspiel.

Ich habe immer sehr viel Emotion und Motivation aus der Hymne gezogen. Bei der WM entstand plötzlich eine fantastische Wechselwirkung: Wir haben auf dem Rasen überrascht durch unser Spiel, und Fans und Bürger dieses Landes haben überrascht mit ihrer Offenherzigkeit, ihrer Gastfreundschaft und der ungezwungenen Begeisterung.

Bei der WM 2006 begannen die Spieler, sich bei der Hymne zu umarmen. Ein Ritus, der bis heute anhält. War das eine bewusste Aktion, um den Schulterschluss nach außen zu dokumentieren?

Metzelder: Ich meine, wir haben uns das von den Brasilianern abgeguckt. Wir wollten von Anfang an dokumentieren, dass wir zusammenstehen. Ich habe ja dann auch während einer Pressekonferenz alle aufgefordert, es uns gleichzutun und sich auch auf der Tribüne während der Hymne ebenfalls zu umarmen. Meiner Erinnerung nach ist das nicht nur positiv aufgenommen worden. Es gab auch Kritik, ich würde aufgesetzten Patriotismus vorschreiben.

Tatsächlich waren Sie es, der nach dem Eröffnungsspiel als Erster auf einen ungezwungenen Umgang mit nationalen Symbolen hingewiesen und damit eine öffentliche Diskussion entfacht hat. War das eine bewusste Äußerung?

Metzelder: Es war schon eine bewusste Entscheidung des damaligen Pressesprechers Harald Stenger, mich in diesen Tagen zur Pressekonferenz zu schicken. Der Start mit dem Sieg gegen Costa Rica war geglückt, aber gerade defensiv blieben Fragezeichen. Es ging um sportliche Fragen, aber mir war es wichtig, noch eine andere Botschaft zu überbringen. Das war nichts Aufgesetztes, sondern etwas, das ich zutiefst empfunden habe. Für mich war es immer eine große Ehre, mein eigenes Land als Sportler vertreten zu dürfen. Und ich hatte das Gefühl, dass Sportdeutschland bereit war, diese Mannschaft ungezwungen zu unterstützen.

Es ging dann eine Welle durchs Land, die das Bild Deutschlands im Ausland bis heute nachhaltig veränderte. Kommt Ihnen die Kraft des Fußballs manchmal surreal vor?

Metzelder: Ich muss ja nur auf meine eigene Laufbahn schauen. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, aus einer Lehrerfamilie. Meinen Lebensweg von Haltern am See bis nach Madrid hat mir einzig und allein der Fußball ermöglicht. Natürlich merkt man schnell, wenn man etwa bei Borussia Dortmund oder Schalke spielt, was diese Vereine für die Menschen der Region bedeuten. Spätestens nach meinem ersten Länderspiel wurde daraus dann ein nationales Interesse. Ich war kein regionales Phänomen mehr, sondern alle Fußballfans in Deutschland beobachteten mich ab dem Zeitpunkt. Kritisch auf der einen Seite, aber auch mit unglaublicher Euphorie, wenn man erfolgreich ist. Deshalb ist es ein ganz großes Geschenk für jeden, der mit seinem Talent solche Emotionen hervorrufen kann.

Sie sind kurz nach der WM 2006 in die CDU eingetreten. Hatte das mit den Ereignissen damals zu tun?

Metzelder: Ich komme aus einer konservativ-katholischen Familie und habe nach der WM meine eigene Stiftung gegründet. Ich habe mich als Jugendlicher schon sehr für Politik interessiert, deswegen war für mich immer klar, dass ich mich irgendwann engagieren werde. Ich bin damit allerdings nicht hausieren gegangen. Solange ich aktiv war, hat das niemand erfahren.

Wenn Sie nun nach zehn Jahren auf die politische Landschaft in Deutschland blicken: Bereiten Ihnen das Aufflammen der rechten Szene oder die Wahlerfolge etwa der AfD große Sorgen?

Metzelder: Interessanterweise ist ja oft die Sicht von außen die bessere, weil sie ungefiltert und unvoreingenommen ist. Neulich sprach ich mit Ausländern über die Flüchtlingssituation. Ihre Meinung war, dass die Deutschen alles mit einer unglaublichen Konsequenz machen. Eine konsequente Willkommenskultur trifft auf eine konsequente Ablehnung der Flüchtlingspolitik. Diese Zerrissenheit spüren wir gerade. Mit großer Sorge beobachte ich die aufkommenden rechten Tendenzen, die immer dann stark werden, wenn in unsicheren Zeiten Ängste geschürt werden.

Seit zehn Jahren engagiere ich mich in der Sozial- und Jugendarbeit und weiß, dass sich immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die haben sich bei den letzten Wahlen deutlich zu Wort gemeldet. Das müssen wir ernst nehmen! Der soziale Frieden in unserem Land wird auf Dauer gefährdet sein, wenn wir es nicht schaffen, jedem Menschen eine faire Chance zu geben, sein Leben zu gestalten.

Haben Sie auch Zuversicht?

Metzelder: Ja, aber Deutschland steht vor einer großen Herausforderung. Denn mit der Integration der Flüchtlinge beginnt ja erst die Arbeit. Das wird uns noch Jahre und Jahrzehnte beschäftigen. Aber ich habe Vertrauen, weil ich sehe, wie viele Menschen sich tagtäglich ehrenamtlich dafür engagieren.

Kann der Sport da als Vorbild dienen? 2006 begann in der Nationalelf ja eine Entwicklung: Das Team wurde durch Spieler mit Migrationshintergrund bereichert, schließlich gehörten Özil, Podolski, Khedira oder Boateng zum Weltmeisterkader.

Metzelder: Sport verbindet und gerade der Fußball strahlt auf der ganzen Welt eine unglaubliche Faszination aus. Man muss nur einen Ball in die Mitte werfen und der Afghane, der Syrer und der Deutsche wissen, was zu tun ist.

Es ist völlig egal, wo du herkommst und welcher Religion du angehörst. Es zählen nur das Spiel und deine Aufgabe auf dem Feld. Der Fußball ist immer auch ein Querschnitt der Gesellschaft. Die Nationalmannschaft spiegelt das wider und hat damit eine Vorbildfunktion für den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Mit Ihrer Stiftung versuchen Sie auch, einen Beitrag zu leisten.

Metzelder: Stimmt, die Gründung der Stiftung jährt sich ja auch zum zehnten Mal. Wir haben beispielsweise bereits vor fünf Jahren Projekte für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge unterstützt. Das tun wir weiterhin, aber heute ist es mir auch wichtig zu sagen, dass unser Angebot für alle Kinder gilt – deutsche Kinder, Kinder mit Migrationshintergrund und Flüchtlingskinder – die aus welchen Gründen auch immer Hilfe auf ihrem Lebensweg benötigen.

Was ist das Vermächtnis der WM 2006?

Metzelder: Sportlich die Erkenntnis, dass eine deutsche Nationalelf mehr kann als laufen, kämpfen und bis zur letzten Minute an sich zu glauben. Auf gesellschaftlicher Ebene ist in diesen vier Wochen Deutschland 16 Jahre nach der Wiedervereinigung emotional zusammengewachsen und hat dabei gleichzeitig die Welt mit offenen Armen empfangen. 2014 hat die Nationalmannschaft mit ihrer fairen Geste nach dem 7:1 im Halbfinale gegen den Gastgeber Brasilien dafür gesorgt, dass sich dieses Bild weiter verfestigt hat. Die Sicht von außen auf Deutschland ist sehr viel positiver als unsere Binnensicht.

Was waren Ihre Highlights der WM 2006?

Metzelder: Im Grunde gibt es drei Momente, an die ich mich sehr bewusst erinnere. Da ist zum einen diese 89. Minute, als in Dortmund gegen Polen das Tor fällt und die Begeisterung über uns und weit über das Spiel hinaus schwappt.

Dann das Halbfinale, als die Italiener kurz vor Ende der Verlängerung den Ball in der Viererkette hin- und herschoben, beide Mannschaften nur noch aufs Elfmeterschießen gewartet haben und wir dann trotzdem noch aus unserem Traum gerissen wurden, und dann der Empfang in Berlin. Die Fanmeile und die Begeisterung waren bis dahin abstrakt für uns, dann aber durch das Brandenburger Tor zu gehen und diese eine Million Fans zu sehen und die Begeisterung hautnah zu spüren, das war ein ganz besonderer Moment.

Herr Metzelder, Sie sind auch Präsident des TuS Haltern, Ihres Heimatvereins. Die Stadt musste im vergangenen Jahr den Tod vieler junger Menschen verkraften, die beim Absturz der German-Wings-Maschine ums Leben kamen. Konnte der Fußball mithelfen, diese Tragödie zu verarbeiten?

Metzelder: Wir waren als Verein nicht unmittelbar betroffen. Aber ich bin ja auch Trainer der U 19 und natürlich gab es innerhalb des Teams Spieler, die in dieselbe Klasse gingen, oder befreundet waren. Wir haben uns spontan entschieden, mit Hans Sarpei ein Benefizspiel im Rahmen seiner TV-Sendung zu machen. So haben wir unbürokratisch Geld gesammelt und dem Gymnasium gespendet, an dem ich selber Schüler war.

Ich habe damals in der ganzen Stadt einen unglaublich großen Zusammenhalt gespürt, die Menschen standen einander bei – und sie tun es noch heute. Die Erinnerung an die Opfer und die Solidarität sind ungebrochen.

Was war der Grund dafür, dass Sie den Vorsitz Ihres Heimatvereins übernommen haben?

Metzelder: Ich bin mit Leib und Seele Westfale und hänge an meiner Heimat. Ich habe eine sehr große Verbundenheit zu Haltern am See und meinem Heimatverein, dem ich es am Ende auch zu verdanken habe, dass ich den Weg zum Fußball gefunden habe. Meine Arbeit für den TuS sehe ich als spannendes Projekt, in das ich viel Herzblut, Zeit und Ideen einbringe.

 
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