In Oberhof, in der Rudolf-Breitscheid-Straße 2, liegt ein „Schnee-Depot!“. Ein Witzbold aus der „Villa Immergrün“ hat ein selbst gebasteltes Schild mit dieser Aufschrift in einen Schneehaufen vor der Pension gesteckt. Der angegraute Haufen wurde beim Räumen der Parkplätze zusammengeschoben. Doch der Eindruck täuscht: Es liegt ausreichend Schnee in der 1600 Einwohner zählenden Stadt im Thüringer Wald. Die Loipen für die Freizeitläufer sind gespurt. Und Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt sind noch bis zum Sonntag auf der Kuppe dort zu Gast: Die Biathlon-Weltmeisterschaft zieht zehntausende Menschen an. Sie erleben eine Mini-Winterwelt mit einer perfekt präparierten Anlage – während wenige Kilometer weiter unten schon der Frühling Einzug zu halten scheint.
Am letzten WM-Wochenende wird ein Massenansturm mit bis zu 28.000 Tagesgästen erwartet
Zum Endspurt am letzten WM-Wochenende wird ein Massenansturm mit bis zu 28.000 Tagesgästen erwartet. Sie feuern wie schon in den vergangenen knapp zwei Wochen die Skijägerinnen und Skijäger an. Sie feiern auf den meterhohen Tribünen mit lauten „Hey“-Rufen die Treffer. Und begleiten jeden Fehlschuss mit einem enttäuschten „Ohhhh“. Das Fernsehen liefert perfekte Bilder mit strahlendem Sonnenschein und ausreichend Schnee – auch wenn der eher sulzig war.
Doch wie ist das möglich in einer Mittelgebirgsregion auf lediglich 850 Metern Höhe? Experten sagen, dass es künftig in Lagen unter 1500 Metern wegen permanenten Schneemangels kaum noch Wintersport geben wird.
Bei der Anfahrt aus Norden über Ohrdruf und Luisenthal geht es nicht durch blühende Landschaften, wie sie einst Kanzler Helmut Kohl versprochen hatte, sondern vorbei an braunen Äckern und grünen Tälern. Nichts erinnert an Winter. Mitte Februar spitzeln in geschützten Lagen vereinzelt Krokusse hervor. Wenige Kilometer bergauf aber, in der Arena am Rennsteig, regiert noch der Winter. Der Fallbach-Sessellift neben der Rodelbahn läuft, und die Biathlon-Weltmeisterschaften waren nie gefährdet. Das beteuern die Verantwortlichen. Ein Fahrer, der Journalisten vom Medien-Parkplatz „Im Gründle“ zur Strecke chauffiert, ist da jedoch anderer Ansicht. Nach dem Wärmeeinbruch zu Neujahr, als sich auch in Oberhof die Temperaturen im zweistelligen Plus-Bereich bewegten, sei er skeptisch gewesen. „Aber die WM hätte auf Teufel komm raus stattfinden müssen, selbst wenn sie den Schnee vom Nordpol hätten herfliegen müssen.“
Früher karrte man Schnee bis aus Gelsenkirchen in den Thüringer Wald
Zwar nicht von der Polkappe, gleichwohl immerhin bis aus Gelsenkirchen karrten einst Lastwagen das weiße Gold des Wintersports in den Thüringer Wald. Einfache Strecke: 350 Kilometer. Knapp vier Stunden dauerte der Trip auf Autobahn und Landstraßen. Ein organisatorischer und ökologischer Wahnsinn. Solche Zeiten gehören der Vergangenheit an. Denn längst horten die Oberhofer ihren Schnee. Das Zauberwort heißt „Snowfarming“. Die kostbaren Kristalle werden hergestellt, gehätschelt und geschützt. Und das vor Ort.
Das Prinzip klingt einfach: In ausreichend kalten Nächten produzieren Schneekanonen die Schneekristalle. Naturschnee ist gut, künstlich produzierte Flocken sind besser, weil haltbarer und in der Struktur widerstandsfähiger. Als also zum Jahreswechsel 2022/23 am Neujahrstag kein Fetzen Schnee auf der Kuppe des Thüringer Waldes lag, schliefen die Organisatoren noch ruhig. „Unsere Schneedepots waren mit 45.000 Kubikmetern Schnee prall gefüllt“, sagt Ronny Knoll vom Organisationsteam in Oberhof.
Weil man sich darunter wenig vorstellen kann: Die Menge würde ausreichen, die 4,4 Kilometer langen Loipen am Rennsteig sogar zweimal zu belegen. Auch jetzt seien noch 30.000 Kubikmeter im Depot, heißt es. Da es wie erwartet erst spät Ende Januar kräftig schneite, konnten die Veranstalter auf dem vorhandenen Kunstschnee einen Teil des Materials aus dem Depot ausbringen. Der Schnee stammt teilweise noch aus dem vergangenen Winter. Da wurden die Depots in Oberhof bereits befüllt und anschließend mit einer 40 Zentimeter dicken Schicht Hackschnitzel aus Holz bedeckt. „Das funktioniert gut. So übersommern wir rund achtzig Prozent des Schnees“, erzählt Knollüber die Arbeit der Snowfarmer. Selbst wenn am letzten WM-Wochenende Sturm, Plusgrade und Regen angesagt sein sollten, werden die Oberhofer ihre Titelkämpfe durchziehen können.
Für Ex-Biathlet Eric Lesser ist Snowfarming der einzig gangbare Weg, um den Sport weiter veranstalten zu können
Für Eric Lesser ist Snowfarming der einzig gangbare Weg, um weiterhin seinen Sport noch veranstalten zu können. „Ohne Snowfarming würden wir in Oberhof, aber auch in Ruhpolding oder selbst im schwedischen Östersund keine Wettkämpfe haben. Auch im hohen Norden in Schweden kämpfen sie mit Schneemangel“, sagt der 34-jährige Doppel-Weltmeister und Silbermedaillengewinner von Sotschi 2014. Mit seiner Frau und zwei Kindern lebt der vor einem Jahr vom aktiven Sport zurückgetretene Biathlet in Oberhof. „Es lebt sich extrem gut hier. Ich bin nicht der Stadt-Typ und mag die Nähe zur Natur und den Loipen“, sagt er.
Lesser spürt den WM-Effekt in seinem Wohnort: „Durch die Titelkämpfe und die Finanzspritzen ist das Leben hier noch attraktiver geworden.“ Nicht nur die Bewohner fühlen sich wohl. „Auch der Nachwuchs profitiert von der Modernisierung. Nach der WM wird hier bis Ende März auf den Loipen trainiert“, sagt er. Im vergangenen Jahr kam Oberhof auf über 100 Loipentage. 40 Millionen Euro wurden in die Anlagen investiert, nicht nur für den Biathlon. In Oberhof stehen zudem drei Skisprungschanzen, eine Skihalle und eine Rodelbahn, die höchsten Ansprüchen genügt. Kurz vor den Biathleten hatten auf der Eisbahn in Oberhof die Rodler ihre Weltmeister ermittelt.
Mit 23.500 Zuschauern ist die riesige Arena am Rennsteig, die mit ihrem Halbkreis an ein Fußballstadion erinnert, ausverkauft
Nach 2004 ist es die zweite Biathlon-WM in Thüringen. 2012 war das oberbayerische Ruhpolding an der Reihe. Die beiden Welttitelkämpfe in Deutschland lockten insgesamt jeweils mehr als 200.000 Fans an, nun sollen es über 150.000 werden. Dazu kommen Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer vor den TV-Geräten.
Günstig ist das Live-Vergnügen nicht: Eine Tribünenkarte für Samstag oder Sonntag mit jeweils zwei Rennen kostet 84 Euro. Vor Ort zu sein, wenn Denise Herrmann-Wick oder der norwegische Überflieger Johannes Thingnes Bö über die Loipen jagen und auf die Scheiben zielen, wollen sich zigtausende Fans dennoch nicht entgehen lassen. Aus ganz Deutschland, aber auch aus Norwegen, Schweden, Finnland oder Tschechien strömen sie nach Oberhof und Umgebung. Sie füllen die Hotels im Umkreis von 50 Kilometern. Mit 23.500 Zuschauern ist die riesige Arena am Rennsteig, die mit ihrem Halbkreis an ein Fußballstadion erinnert, ausverkauft. Dazu kommen weitere Zuschauer an der Strecke sowie rund 1000 Helfer. „Damit ist der Ort an seiner Kapazitätsgrenze“, sagt Ronny Knoll.
In Oberhof freut man sich über den Ansturm. Und wie Ex-Biathlet Lesser begrüßt auch Angelika Hecht die Millionen-Investitionen, die vom Land Thüringen und vom Bund kommen. „Es ist wichtig, dass hier etwas passiert. Da kommt Leben in die Bude. Denn sonst passiert hier ja nichts“, sagt die 59-Jährige, die in Oberhof geboren ist. Sie selbst sei „nie die Sportskanone“ gewesen. Der Wintersport prägte allerdings schon immer die Region. „Zu DDR-Zeiten sind die Familien in den damals langen Winterferien hierhergekommen. Oder zur Kinder- und Jugendspartakiade“, erzählt Hecht.
Die allererste Skisprungschanze stand 1908 am oberen Hof. Oberhof entwickelte sich zur Tourismus-Region und wurde das „St. Moritz des Ostens“ genannt. Nun ja, mit solchen Begriffen muss vorsichtig hantiert werden. Schließlich gilt bald jede Stadt nördlich der Alpen mit mehr als einem Dutzend Brücken als „Venedig des Nordens“. Unter Walter Ulbricht (1893–1973) erlebte die Region einen Aufschwung. Der Vorsitzende des Staatsrats der DDR, der Berühmtheit erlangte für seine eiskalte Lüge, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu bauen, ließ auch im Thüringer Wald die Bagger auffahren. Nicht, um auch hier den "antifaschistischen Schutzwall" hochzuziehen. Sondern um die DDR-Athleten im Kampf gegen den Klassenfeind zu unterstützen. In Zwickau an der Mulde hatte der sozialistische Staat einen Teil des Augsburger Eiskanals am Lech heimlich nachgebaut. Gut gerüstet für die erste künstliche Kanustrecke der Welt holten im Sommer 1972 bei den Olympischen Spielen in München die DDR-Athleten vier Goldmedaillen. Die Ernüchterung im Westen war groß.
In Oberhof wollen die Zuschauerinnen und Zuschauer in erster Linie Party machen
Ähnliches war auf Eis und Schnee geplant, und der Plan ging auf. „Walter Ulbricht wollte die Sportler für die Winterspiele 1972 in Sapporo vorbereiten und ließ die Anlagen hier in Oberhof dafür modernisieren“, erzählt Ronny Knoll vom Organisationsteam. Im Kampf der Systeme siegten die Kommunisten: Den Medaillenspiegel der Winterspiele 1972, die damals noch im gleichen Jahr wie die Sommerausgabe in München stattfanden, beherrschte die Sowjetunion. Dahinter folgte die DDR und erst auf Rang drei reihte sich die Wintersportnation Schweiz ein.
Der Sport war damals wie heute politisch. In Oberhof wollen die Zuschauerinnen und Zuschauer in erster Linie Party machen. Die Medaillen werden nicht im Stadion vergeben, sondern abends im Zentrum an der Crawinkler Straße auf der „Medals Plaza“. Dort steht eine aus Stahlträgern aufgebaute Bühne, die mit schwarzen Plastikplanen eingedeckt ist. Nach der Medaillenzeremonie strömen die Fans in die umliegenden Kneipen. Die „Klappscheibe“ bietet regionale Küche. In der Gaststätte „Zur alten Post“ werden auch bulgarische Spezialitäten wie Sdrandschanski Kebap serviert: eine Schweinelende an Champignons. Das „Cortina“ wiederum bietet „Impressionen aus der Alpenküche“ und grüßt mit einem selbst gemalten Schild wie im Allgäu: „Grias Di!“
Après-Ski in einem Winter, der trotz aller Bemühungen der Oberhofer auf dem Rückzug ist. „Die Winter beginnen später und werden kürzer, darauf müssen wir uns alle einstellen“, sagt Eric Lesser und erzählt: „Vor kurzem habe ich einen Schneemann für die Kinder gebaut. Der ist nach drei Tagen eingestürzt. Das hätte es Anfang Februar früher nicht gegeben.“