
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde vor zehn Jahren, am 26. Mai 2009, veröffentlicht.
Das Ende der Zeit in dieser zweiten Hälfte war gekommen. Die Stadionuhr in Camp Nou erstarrte bei 45:00. Der FC Bayern München führte im Champions-League-Finale am 26. Mai 1999 in Barcelona 1:0 gegen Manchester United, das Spiel, so schien es, es tröpfelte aus, am Siegerpokal hingen bereits die Schleifen mit dem Bayern-Logo. Schwül war es oben auf der Pressetribüne, aber jetzt waren die Hymnen ja getippt. Die Rotationsmaschinen in der Heimat warteten nur noch auf den Knopfdruck, die Überschriften waren fertig: "Die Münchner Helden von Barcelona."
Doch dann ereilte den FC Bayern in der Dämmerung dieser bizarren Partie noch der Sekundentod, Manchester United wendete die Partie - die Geschichte wurde umgeschrieben. Die Kollegen der "Bild" hatten es dabei noch relativ einfach: Eigentlich sollte in Anspielung auf den englischen Gegner ein riesenhaftes Yes! die Titelseite schmücken, es wurde kurzerhand: Oh No!
Unglaublich - dies war das meist gebrauchte Wort in jener lauen Frühlingsnacht in Katalonien. Mario Basler hatte den FC Bayern durch einen listigen Freistoß in der sechsten Minute in Führung gebracht. Die Münchner um Lothar Matthäus, Stefan Effenberg, Oliver Kahn, sie hatten von da an die Partie im Griff und zig Chancen, auf 2:0 zu erhöhen. Manchester United, angetrieben von Ryan Giggs und David Beckham, fand kein Mittel, und so wechselte Sir Alex Ferguson spät in der zweiten Halbzeit zwei neue Kräfte ein: Teddy Sheringham und Ole Gunnar Solskjaer. Es waren exakt jene beiden Spieler, die in der Nachspielzeit der Partie das Ergebnis drehten und die silberne Trophäe nach Old Trafford holten. Zwei Tore aus dem Nichts machten aus einem Finale ein Spiel für die Ewigkeit. Nicht mal eine Verlängerung gab es, keine Zeit zum Reagieren.
Titelsong aus Monthy-Python-Film
UEFA-Präsident Lennart Johannsson war gerade mit dem Fahrstuhl aus den Höhen der Ehrenloge hinunter ins Souterrain gefahren, gleich wollte er den berühmtesten Henkeltopf des Fußballs an die Spieler des FC Bayern übergeben. Der Schwede konnte das Bild der jubelnden Engländer zunächst nicht einordnen, erst langsam realisierte er, dass sich während der Minuten im Lift die Welt in Camp Nou auf den Kopf gedreht hatte.
Nach dem Abpfiff entwickelten sich bizarre Szenen: "Always look at the bright side of life", der Titelsong aus dem Monthy-Python-Film "Das Leben des Brian" tönte aus den Lautsprechern, während Sammy Kuffour von einem Weinkrampf geschüttelt wurde und mit seinen Fäusten auf den unschuldigen Rasen trommelte. Mit leeren Augen blickte Lothar Matthäus in die Nacht, nahm seine Medaille für den zweiten Platz vom Hals: Es war nicht die Trophäe, für die der Weltmeister angereist war. Thorsten Fink, der in der 80. Minute für den angeschlagenen Matthäus gekommen war, erinnert sich vor allem an das Blitzlichtgewitter bei der Siegerehrung. "Das war ganz bitter, da wurde einem erst so richtig bewusst, wie nah wir eigentlich an diesem Pokal gewesen sind." 23 Jahre nach dem letzten Triumph der Münchner im Landesmeister-Cup war dieses Fußballfeld in Barcelona aus Bayernsicht zum Friedhof der Sehnsüchte geworden.
Keiner sprach ein Wort in der Kabine. Nur das Klacken der Stollenschuhe auf dem weißen Marmorboden und ab und zu ein Schluchzen durchbrachen die Stille, so erinnert sich Hans-Peter Renner aus der Presseabteilung des FCB. Als Trainer Ottmar Hitzfeld vom TV-Interview zurückkehrte, ging er zu jedem einzelnen Spieler und spendete Trost: "Kopf hoch, es geht weiter!" "Wir hatten die spritzenden Schampusflaschen ja schon vor Augen gehabt", sagt Günther Siegl, Sänger der "Spider Murphy Gang". Die Münchner Rocker waren vom FC Bayern ausgesucht worden und hatten vor Anpfiff vor der Fankurve ihre Hits "Schickeria" und "Skandal im Sperrbezirk" gespielt. "Playback natürlich", lacht Siegl und sagt: "Vor 90 000 Zuschauern zu spielen, das war wahrscheinlich unser außergewöhnlichster Auftritt." Anschließend saß er auf der Tribüne und beim 1:1 "hab' ich gedacht, blöd, jetzt gibt's halt Verlängerung." Doch dann. Wieder Eckball. Wieder Beckham. Wieder Tor. "Was is'n jetzt los? Ich hab' gedacht, die spielen auf dem Rasen eine TV-Wiederholung nach."
In jener Nacht trennten sich die Spieler, aber es entstand eine Mannschaft
Zwei Jahre später, beim Bayern-Triumph in Mailand, waren die Spiders wieder dabei und Siegl hat auch schon mal darüber nachgedacht, seine Champions-League-Erinnerungen in ein Lied zu packen. "Den Titel hätt' ich schon", sagt er: "Lasst uns trinken auf die gute alte Zeit." Die Bilder nach der Ehrung waren so gegensätzlich wie Sushi und Bratwurst. David Beckham küsste sein Spice Girl Victoria Adams, und einen Steinwurf entfernt saß Oliver Kahn wie ausgeknipst im Gepäckfach des Bayern-Busses, während sich Mario Basler eine Zigarette anzündete. Später, im noblen Ballsaal des Barcelo Hotel Sants zu Barcelona, versuchte Präsident Franz Beckenbauer, das Geschehene als halb so schlimm darzustellen: "So grausam kann Fußball sein", rief er den Spielern beim Bankett zu, "aber ihr habt großartig gekämpft. Es hat Spaß gemacht, euch in dieser Saison Fußballspielen zu sehen." Es gab Applaus.
In dieser Nacht trennten sich die Spieler. Manche feierten, andere zogen sich zurück. Aber es entstand eine Mannschaft. Der FC Bayern München lernte durch dieses historische Ende eines Fußballspiels, dass es nie zu spät ist für eine Wende. Thorsten Fink formuliert es heute so: "Diese bittere Erfahrung hat uns gelehrt, dass es immer weiter geht, immer. Seit Barcelona wussten wir, jedes Spiel ist zu drehen." Anwendung fand diese Lektion erstmals zwei Jahre später im dramatischen Saisonfinale der Bundesliga 2001. Schalke 04 wähnte sich am letzten Spieltag schon als Meister, als Patrik Andersson in der letzten Sekunde der Nachspielzeit dem FC Bayern beim Hamburger SV durch den Ausgleichstreffer zum 1:1 noch den Titel sichert. Damals versank Gelsenkirchen im Meer der Tränen. Die Bayern aber gewannen in jenem Jahr auch noch die Champions League: In Mailand besiegten sie den FC Valencia im Elfmeterschießen.
Diese Niederlage prägte die Mannschaft
Die Art und Weise der Niederlage von 1999 hat den FC Bayern also geprägt, "sie hat uns den absoluten Willen verliehen, den wir gebraucht haben, um zwei Jahre später gegen die Spanier zu gewinnen", erzählt der Baske Bixente Lizarazu, der in Barcelona verletzt auf der Tribüne gesessen und nach dem Spiel den heulenden Hünen Carsten Jancker getröstet hatte. Ähnlich sieht es Bayern-Manager Uli Hoeneß: "Wir hatten damals von den Einzelspielern her sicher nicht die beste Mannschaft. Aber es hat einfach alles gepasst." Das Team habe sich durch einen unbändigen Willen ausgezeichnet.
"Die Niederlage von Barcelona", sagt Thorsten Fink, "hat uns damals so richtig zusammengeschweißt. Die Mannschaft war schon etwas besonderes. Das waren keine Söldner, sondern alle haben auch vom Charakter her gut zusammengepasst." Während der FC Bayern dann nach dem internationalen Höhenflug der Jahre bis 2001 nicht mehr über das Viertelfinale der Champions League hinauskam, gewann Manchester United 2008 erneut den Titel und steht auch am morgigen Mittwoch, 30. Mai 2009, zehn Jahre nach dem legendären Match gegen den FC Bayern, erneut im Finale der lukrativen Königsklasse: Es wartet in Rom ausgerechnet der Gastgeber von damals, der in diesem Jahr so spielstarke FC Barcelona. Jener Klub, der im Viertelfinale den FC Bayern von Jürgen Klinsmann hochkant aus dem Wettbewerb katapultiert hatte.
Während in München mit Oliver Kahn im Jahr 2008 der letzte Recke aus der 1999-Elf seine Karriere beendet hat, kann auf Seiten von Manchester United einer das Jubiläum sogar auf dem Platz feiern: Ryan Giggs. Ob es aber noch mal so ein kurioses Finale geben wird wie jenes außergewöhnliche am 26. Mai 1999? Wohl nicht, und so ahnen auch die Münchner Beteiligten, dass das Dabeisein vielleicht mächtiger wiegt als mancher Titel: "Mal ehrlich", sagt Thorsten Fink, "wenn wir damals 1:0 gewonnen hätten, würde dieses Spiel heute doch keinen mehr interessieren."