Das spektakuläre Duell zwischen Jonas Vingegaard, dem Mann in Gelb, und seinem Verfolger Tadej Pogacar könnte mit der knappsten Entscheidung in der Geschichte der Tour de France enden. 2606,9 Kilometer hat das Peloton bisher in 15 Etappen zurückgelegt. 62 Stunden, 34 Minuten und 27 Sekunden (inklusive aller Zeitgutschriften) war der Däne dafür unterwegs – und damit zehn Sekunden schneller als Pogacar. Auf den drittplatzierten Spanier Carlos Rodriguez Cano klafft dann schon eine Lücke von etwas mehr als fünf Minuten. Selten war die Tour so spannend. Selten war so wenig vorhersehbar, wer nächsten Sonntag im Gelben Trikot nach Paris fahren wird. Zwar wirkt es momentan so, als sei Pogacar in der etwas besseren Verfassung, doch Vingegaard hat bislang alle Attacken entweder kontern oder den Schaden gering halten können.
In der langen Historie des größten Radrennens der Welt gab es schon einige knappe Entscheidungen. Am knappsten ging es 1989 zu, als sich der Franzose Laurent Fignon vor der letzten Etappe schon als Sieger wähnte. Letztmalig fiel damals die Entscheidung tatsächlich erst am letzten Tag der Tour mit einem Zeitfahrenüber 24,5 Kilometer von Versailles zur Avenue des Champs-Élysées. Seit 1990 steht der Gesamtsieger schon am vorletzten Tag fest. Er wird auf der letzten Etappe nicht mehr attackiert. Stattdessen dürfen die Hochgeschwindigkeitsspezialisten in Paris noch einmal einen der prestigeträchtigsten Sprints des Radsports ausfahren.
Tour de France: Fignon – der Mann, der die Tour wegen acht Sekunden verloren hatte
Nicht so 1989. 50 Sekunden Vorsprung nahm Fignon am letzten Tour-Tag mit auf die Strecke und wirkte trotz einer offenen Wunde am Gesäß reichlich siegesgewiss. Sein Verfolger Greg LeMond allerdings hatte noch längst nicht aufgegeben. Der US-Amerikaner setzte auf moderne Technik. Auf dem Kopf trug er einen Zeitfahrhelm in Tropfenform und legte sich aerodynamisch günstig auf einen Triathlonlenker. Fignon dagegen trug sein Haupthaar zum Zopf gebunden und verlor kontinuierlich Zeit auf den vor ihm gestarteten LeMond. Der stand schon längst im Ziel, als der Franzose noch unterwegs war und bangte um den Sieg. Als Fignon ins Ziel kam, war aus dessen 50 Sekunden Vorsprung ein Rückstand von acht Sekunden geworden.
"Ich wusste nichts mehr – nicht, wer ich war und nicht, wo ich war. Dann nahm der Schock Form an in meinem Kopf. Er begann, Realität zu werden", schrieb Fignon später in seiner Autobiografie. Diese Niederlage sollte ihm den Rest seines Lebens anhaften – viel mehr als seine beiden Tour-Siege der Jahre 1983 und 1984, oder auch die Erfolge beim Giro, Mailand-Sanremo und dem Flèche Wallone. Fignon starb 2010 als der Mann, der die Tour wegen acht Sekunden verloren hatte.
Vingegaard oder Pogacar? Ex-Radprofi Jens Voigt sieht leichte Vorteile beim Slowenen
Doch vielleicht findet er in diesem Jahr doch noch einen Nachfolger. Einen, der ähnlich knapp oder sogar noch knapper verliert. Die Experten sind sich uneins in ihren Prognosen. Vingegaard oder Pogacar? Ex-Radprofi Jens Voigt sieht leichte Vorteile beim Slowenen, "er ist einfach frischer. Sein Sturz in Lüttich hat ihn gezwungen, eine Pause einzulegen und seinem Körper Zeit zur Erholung zu geben", sagt Voigt mit Blick auf Pogacars Malheur Ende April, als er einen Kahnbeinbruch erlitt. Mehrere Wochen musste er, im Gegensatz zum dauerrennfahrenden Vingegaard, auf ernsthaftes Radtraining verzichten und absolvierte stattdessen lange Wanderungen. Ein Konzept, das ihm nun die entscheidende Frische in den Beinen bescheren könnte.
Der Respekt der beiden Topfahrer voreinander ist groß. "Ich hatte das Gefühl, dass Jonas super gut war, und ich wusste, dass ich ihn nicht wirklich abhängen konnte", sagte Pogacar nach der 15. Etappe am Sonntag. Schulter an Schulter waren sie über die Ziellinie gefahren. Zuvor hatte Vingegaard alle Attacken von Pogacar einigermaßen souverän pariert.
Fünf Etappen bleiben den beiden Kontrahenten noch, um die Frage zu klären, wer denn nun am kommenden Sonntag in Gelb nach Paris kommt. Los geht das letzte Tour-Viertel an diesem Dienstag mit dem einzigen Zeitfahren. Die Experten gehen nicht davon aus, dass sich dort schon das Klassement an der Spitze entscheidend verändern wird. Der steile Anstieg zum Ende dürfte beiden Bergfahrern liegen. "Dienstag und Mittwoch werden entscheidend sein", vermutet Pogacar stattdessen. Vor allem am Mittwoch wird mit Attacken der Favoriten gerechnet, wenn es zum Col de la Loze auf knapp 2300 Meter hinaufgeht. Vielleicht aber fällt die Entscheidung tatsächlich erst auf der 20. und vorletzten Etappe am Samstag im Elsass.