Es wird, mal wieder, eine Tour de France der schwersten Sorte. Das ist jedem sofort klar, der sich das Streckenprofil anschaut. 52.000 Höhenmeter, verteilt auf 3500 Kilometer, zu fahren in drei Wochen. So gesehen nichts Neues also. Immerhin hat die große Schleife seit jeher den Anspruch, das härteste Radrennen der Welt zu sein. Neu ist, dass die Tour nicht in Paris endet. Der legendäre Sprint auf der Champs-Élysées entfällt, weil die französische Hauptstadt wenige Tage später Gastgeberin der Olympischen Sommerspiele ist. Organisatorisch lassen sich diese beiden Großereignisse nicht unter einen Hut bringen. Stattdessen endet die Tour in Nizza mit einem Einzelzeitfahren. Für Marcel Kittel schwer zu verkraften, sagt er und muss schmunzeln. "Ich bin da natürlich komplett befangen als Sprinter." 14 Tour-Etappen hat er gewonnen und ist damit deutscher Rekordhalter. Natürlich verstehe er den Grund für den Umzug, fügt er an, hat aber auch die leise Sorge, "dass das ein Test-Ballon ist, um mal was Neues zu probieren und zu schauen, wie das ankommt. Denn man darf nicht vergessen: Der Kampf um das Gelbe Trikot wird einen Tag länger. Diese Extra-Etappe kommt den Veranstaltern, die das Rennen verkaufen, vielleicht gerade recht." Hintergrund ist, dass es bisher Tradition war, den Gesamtführenden auf der letzten Etappe nicht mehr zu attackieren.
Die Versuchung ist groß, früher aus der Tour auszusteigen
Kittel setzt darauf, dass die Anziehungskraft des Tour-Finales in Paris zu groß ist, als dass es dauerhaft gestrichen würde. "Das kann man einfach schwer vergleichen mit einem Rundkurs um Nizza, der auch noch brutal schwer ist." Der ehemalige Sprinter sieht darin auch die Verführung zu sagen, "dass ich die Tour eben nicht zu Ende fahre. Gerade mit Blick auf die Olympischen Spiele denkt sich vielleicht der ein oder andere, dass er die Tage lieber zur Regeneration nutzt".
Das wird natürlich nicht für die Favoriten auf den Gesamtsieg gelten. Sie müssen jeden Meter fahren, auch wenn die Rollen klar verteilt sind. "Die objektive Einschätzung ist, dass alle gegen Tadej Pogacar fahren", sagt Kittel. "Weil er der Einzige ist, der mit perfekter Vorbereitung durch das Frühjahr gekommen ist. Alle anderen hatten schwere Stürze und/oder Krankheiten." Gemeint ist damit vor allem Jonas Vingegaard, Tour-Champion der vergangenen beiden Jahre. Seit einem Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt Anfang April hat der Däne kein Rennen mehr bestritten.
Pogacar will das legendäre Double aus Giro und Tour
Ganz anders Pogacar. Nach dem Giro will der Slowene nun auch die Tour gewinnen. Ein Double, das zuletzt der skandalumwitterte und 2004 gestorbene Marco Pantani im Jahr 1998 schaffte. Kittel traut Pogacar den Doppelschlag zu: "Wenn es einer drauf hat, dann er. Aber natürlich gibt es da noch Zweifel. Ob er sich zum Beispiel in der dritten Woche immer noch so dominant durchsetzen kann. Die wissen aber schon, was sie tun. Ich habe großes Vertrauen, dass er topfit am Start stehen wird."
Für deutsche Tour-Hoffnungen in der Gesamtwertung gäbe es dagegen keinen Grund. Anders sieht es bei Etappensiegen aus. Kittel: "Mit Phil Bauhaus haben wir ein ziemlich heißes Eisen im Feuer. Auch auf Pascal Ackermann bin ich gespannt, was der im Sprint macht. Und dann hoffe ich, dass Georg Zimmermann einen raushauen kann." Der Augsburger war vergangenes Jahr nur knapp an einem Etappensieg vorbeigeschrammt. "In einer Ausreißergruppe sehen wir ihn auf jeden Fall, da bin ich mir sicher", sagt Kittel. Für Zimmermann ist es die vierte Tour-Teilnahme, jetzt soll der erste Etappensieg her. Dafür müsse man vor allem flexibel sein, sagt er: "Man kann sich schon im Vorfeld die Etappenprofile anschauen, welche Topografie passt zu mir. Aber am Ende kommt es meist anders, als man denkt, und jeder Plan wird siebenmal über den Haufen geworfen."
Jan Ullrich drängt zurück in den Radsport
Am Rande der Tour drängt auch ein alter Bekannter zurück in den Radsport. Jan Ullrich ist der bis heute einzige deutsche Tour-Sieger, wurde dann aber des Dopings überführt. Es folgten Jahre des Schweigens. Der einstige Star stürzte auch privat ab. Im vergangenen Jahr dann das Geständnis: "Ja, ich habe gedopt." Mehrfach hat er seitdem anklingen lassen, dass er im Radsport wieder aktiv sein will. "Ich habe damit kein Problem", sagt Kittel. "Mir ist wichtig, dass er Farbe bekennt. Dass er seine Geschichte erzählt, dass er sie ehrlich teilt. Weil es am Ende ja auch dem Menschen Jan Ullrich hilft. Das ist jetzt passiert. Ich wünsche ihm einfach seinen Seelenfrieden, alles Gute und er soll seinen Platz finden." Denn wer könne vor allem jungen Sportlern besser erzählen, wie man es gerade nicht macht, als Ullrich. "Warum soll man ihm an dieser Stelle keine Chance geben?", fragt Kittel.