Selbstverständlich trat der Mann, der leidenschaftlich nicht nur in seinem Beruf das Gaspedal gerne durchtritt, nun kräftig auf die Euphorie-Bremse: „Es ist noch gar nichts entschieden. Wir haben zwar ein ordentliches Ergebnis erzielt, aber am Dienstag müssen wir noch einmal leidensfähig sein und es uns richtig verdienen“, sprach Bernd Hollerbach am Freitagabend in dem eher an eine etwas größere Abstellkammer erinnernden Raum in der Flyeralarm-Arena, in der die Würzburger Kickers die Journaille laden. Soeben hatte die Mannschaft Hollerbachs im Hinspiel der Relegation zur Zweiten Fußball-Bundesliga den Traditionsklub MSV Duisburg mit 2:0 abgewatscht – und damit die Tür in die zweite Beletage der Balltreter-Branche nahezu ausgehebelt.
„Wir haben gewusst, dass es hier richtig schwer wird“, sagte Duisburgs Trainer Ilia Gruev und gestand: „Würzburg hat das auch richtig gut gemacht.“ Und da können allenfalls von der Arithmetik des Fußballs maximal unbefangene Menschen widersprechen. Die Kickers haben sich diese luxuriöse Ausgangsposition vor dem entscheidenden Rückspiel am Dienstag in Duisburg (19.10 Uhr, live in der ARD) durch einen leidenschaftlichen Auftritt verdient, der die Grenze zur Opferbereitschaft bisweilen überschritt. „Wir haben noch 90 Minuten, vielleicht auch mehr“, sagte Gruev – und er wusste vermutlich in diesem Moment auch ganz genau, dass das ein wenig nach Pfeifen im Walde klang.
Deshalb eine kleine Exkursion ins Reich der Stochastik: Die Kickers erkämpften sich in der Runde noch vor dem souveränen Meister Dynamo Dresden die beste Auswärtsbilanz aller Drittligisten, sie holten in 19 Partien in der Fremde 36 von 57 möglichen Punkten, schossen dabei 21 Tore und fingen nur zehn, sie verloren nur einmal in diesem Jahr – und drei Tore kassierten sie auch noch nicht in einem Spiel. Zudem ist ihnen zuzutrauen, auch in Duisburg wenigstens ein Mal zu treffen. Weil die deutsche Relegation nach internationaler Logik entschieden wird (bei gleicher Differenz nach Hin- und Rückspiel kommt derjenige weiter, der auswärts mehr Tore erzielt), scheint es also, als ob die Kickers sich intensiver mit den Auflagen befassen sollten, die die Deutsche Fußball Liga (DFL) für einen Zweitligisten vorschreibt.
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Die Duisburger klammern sich nun an den Strohhalm ihrer „verrückten Rückrunde“, wie es Gruev nannte. Die Meidericher waren im Winter schon totgesagt, hatten zwischenzeitlich neun Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz und verbrachten 31 von 34 Spieltagen auf einem direkten Abstiegsplatz. Eigentlich sollten sie durch ihren erstaunlichen Schlussspurt Selbstvertrauen getankt haben – das aber ließen sie offenbar an der Wedau. Ein Klassenunterschied war nicht zu erkennen, im Gegenteil: Wäre ein der Konstellation unkundiger Fußballfreund am Freitagabend gefragt worden, welche Mannschaft in der zweiten Liga beheimatet ist, wäre sein Tipp aller Wahrscheinlichkeit nach auf den gastgebenden Drittligisten gefallen, der dank seiner unvergorenen Unbekümmertheit und eines verwandelten Elfmeters von Richard Weil (10. Minute) sowie eines nicht nur laut Hollerbach „überragend herausgespielten“ Tors von Daniel Nagy (80.) hochverdient triumphierte.
Nun also stehen die Kickers kurz vor einem Kunststück, das bisher nur RB Leipzig gelang, das freilich dank eines bekannten Brause-Fabrikanten ein Vielfaches des Drei-Millionen-Euro-Etats der Würzburger investieren konnte: schnurstracks durchzumarschieren von der Regionalliga in die zweite Liga. Fehlen nur noch 90 Minuten – und wahrscheinlich nicht mehr.