
Zwei Tassen Kaffee fließen aus dem Vollautomaten. Thomas Dreßen, 30, setzt sich an den Küchentisch. Jeans, weißes T-Shirt. Mutter Martina liest im kleinen Wintergarten Zeitung. Draußen liegt Mittenwald prächtig zwischen den Berggipfeln. Dreßen hat abgenommen, fast zehn Kilo. Für Abfahrer ist Masse ein Vorteil, Muskeln als Knautschzone bei Stürzen. Über 100 Kilo brachte Dreßen auf die Waage. Seit vier Monaten ist Dreßen kein Abfahrer mehr. Überraschend hatte er im Winter seinen Rücktritt verkündet. Das Knie. Knorpel, Kniescheibe, Meniskus, Kreuzband – alles lädiert, mehrfach operiert. "Für mich war immer klar, dass ich den Sport so lange ausübe, solange es Spaß macht. Und wenn es Spaß macht, dann bist du auch erfolgreich." Am Ende war beides weg.
In den vergangenen drei Jahren hatte Dreßen immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen. In den kurzen Phasen dazwischen gibt ihm sein Körper das Gefühl, er könne noch einmal herankommen an die Spitze. Dann fährt er in einzelnen Passagen Spitzenzeiten. Doch gelingt es ihm nicht mehr, all die Puzzleteile, aus denen ein Rennen besteht, zusammenzufügen. Das Knie und die Hüfte schränken seine Bewegungsfreiheit ein. Während Dreßen immer häufiger damit beschäftigt ist, seinen Körper zusammenzuflicken, enteilt die Konkurrenz. "Ich konnte im Training nicht mehr richtig in die Hocke gehen, weil ich so Schmerzen hatte. Und wenn du im Training immer nur mit 70 Prozent unterwegs bist, dann wird es schwierig, im Rennen 100 Prozent abzurufen."
An Renntagen bekam Dreßen drei verschiedene Schmerzmittel
Schmerzmittel werden für Dreßen zum treuen Begleiter. An Renntagen nimmt er zum Frühstück zwei verschiedene, die unterschiedlich schnell wirken, um die Streckenbesichtigung zu überstehen. Vor dem Rennen gibt es dann noch ein drittes. "Das kann auf Dauer nicht gut gehen", sagt Dreßen und nippt an seinem Kaffee. Aber der Wille und die Hoffnung, es doch noch einmal nach ganz oben zu schaffen, sind stärker. Als Abfahrer muss man bereit sein, alles zu riskieren. Schwere Stürze gehören dazu. Wer das nicht akzeptiert, wird nicht gewinnen. Es gehört aber auch dazu, den alltäglichen Schmerz zu ignorieren, auszublenden, wegzudrücken. "In solchen Phasen betreibst du Raubbau an deinem Körper", sagt Dreßen.
Der Sommer des vergangenen Jahres läuft trotzdem überraschend gut. "Ich hatte in der Vorbereitung das Gefühl, noch einmal einen richtigen Schritt nach vorne gemacht zu haben." Zum Saisonbeginn fallen dann aber mehrere Rennen dem schlechten Wetter zum Opfer. Schritt für Schritt habe er seine Form aufbauen wollen, hin zu den großen Klassikern des Januars, allen voran Kitzbühel.
Ein Stich ins lädierte Knie war der Anfang vom Ende
Stattdessen kann Dreßen erst in Gröden in die Saison starten. Platz 18 im Super G. Nicht gut, nicht schlecht. Ende Dezember sticht es ihm während des Trainings ins Knie. Dreßen ahnt sofort, dass es wieder der Knorpel ist. Er liegt richtig. Die Ärzte sagen, dass da auch mit einer Operation nichts mehr zu holen wäre. Trotzdem startet Dreßen in Wengen. Schmerzmittel, das volle Programm. In der ersten Abfahrt landet er auf Platz 28. Beim Mittagessen sitzt er dann mit Bundestrainer Christian Schwaiger zusammen. Die beiden verbindet eine langjährige enge Beziehung. Dreßen vertraut dem Trainer. Und der sagt nun, dass er sich frage, ob er seinen besten Fahrer nicht vor sich selbst schützen müsse. Die beide vereinbaren, dass Dreßen auf den Super G verzichtet und es bei der zweiten Abfahrt des Wochenendes am Sonntag noch einmal probiert. Ein letztes Aufbäumen. "Am Renntag bin ich in der Früh aufgestanden und habe nicht gewusst, wie ich die Treppe runter kommen soll." Das Knie blockiert. Trotzdem geht Dreßen an den Start. Es wird eine Fahrt, an deren Ende er weiß, dass seine Karriere zu Ende ist.
Als er ins Hotel kommt, fragt ihn der Physiotherapeut, ob er auf dem Ergometer ausradeln wolle. Zum ersten Mal in seiner Karriere verzichtet er darauf. Auf der Heimfahrt zu Ehefrau Birgit und Tochter Elena telefoniert er mit Menschen, denen er vertraut. Es geht um Rücktritt. Mit dem Verantwortlichen für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit diskutiert er einen möglichen, geordneten Rückzug aus der aktiven Karriere. Zu Hause angekommen, setzt er sich doch noch aufs Rad. Zehn Minuten. Dann muss er abbrechen. Das Knie schmerzt zu sehr. Am späten Abend schaut er sich seine Siegfahrt von 2018 in Kitzbühel an. Er weiß, dass er so nie wieder fahren wird. Stattdessen fährt er am Montag nach München zu DSV-Mannschaftsarzt Manuel Köhne. Nach dem Besuch ist klar: Kitzbühel noch. Dann ist Schluss. Am Donnerstag erklärt er seinen Rücktritt. Vorher wolle er noch ein letztes Mal fahren. Dort, wo er einst das größte Skirennen der Welt gewonnen hat.
Ein letztes Mal Adrenalin im Starthäuschen
Dreßen nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse. Er erzählt ruhig, konzentriert und wirkt wie einer, der mit sich im Reinen ist. Der Abschluss in Kitzbühel sei genau so gewesen, wie er es sich gewünscht habe. Noch einmal das Adrenalin im Starthäuschen. Diese 30 Sekunden, in denen er sich immer gefühlt habe, wie ein Rodeo-Stier, kurz bevor das Gatter aufgeht. Mausefalle, Steilhang, Brückenschuss, Seidlalmsprung, Lärchenschuss, Hausbergkante, Zielsprung. 80 Weltcup-Rennen ist Dreßen gefahren. Zehn Podestplätze, darunter fünf Siege. Er ist der erfolgreichste Abfahrer in der einhundertjährigen Geschichte des Deutschen Skiverbands.
Und jetzt? Natürlich sei er in ein Loch gefallen, sagt Dreßen. All die Fragen nach der Zukunft. Doch ehemalige Kollegen und vor allem seine Familie fangen ihn auf. Inzwischen ist Dreßen in mehrere Projekte seiner Sponsoren eingebunden. Er steckt mitten in der Skitrainer-Ausbildung. Und dann ist da noch der Ötztaler Radmarathon Anfang September. Eines der härtesten Rennen für Amateure. 227 Kilometer, 5500 Höhenmeter über vier Alpenpässe. Dafür trainiert Dreßen. Das Knie macht keine Probleme. Ein paar Kilo will er noch abnehmen. Denn in seinem neuen Leben am Berg, auf dem Rennrad, ist das von Vorteil.