Ein, zwei Mal in der Woche holt Edi Ziegler das Peugeot-Rennrad aus der Garage seines Hauses in Taufkirchen, südlich von München. Die Touren durch die Voralpenlandschaft sind gut für die Gesundheit des 69jährigen - wenn man sich dabei nicht gerade das Schlüsselbein bricht. Über das im Frühjahr passierte Malheur kann Ziegler schon schmunzeln: "Während meiner aktiven Zeit bin ich so oft gestürzt, aber nie habe ich mir dabei etwas gebrochen." Zwischen 1951 und 1956 war er der beste Amateurfahrer der jungen Bundesrepublik. Das ist lange her, aber nicht vergessen. Noch "viele Autogrammwünsche von jungen Leuten" erreichen Ziegler. Er schickt dann eine Fotokarte, die ihn mit dem mächtigen Siegerkranz eines seiner größten Erfolge zeigt: der deutschen Straßenmeisterschaft, errungen 1953 in Solingen.
Populärer aber hat Ziegler ein Stück Metall gemacht, dass er zusammen mit dem silbernen Lorbeerblatt des Bundespräsidenten im Wohnzimmerschrank verwahrt: die Bronze-Medaille der Olympischen Spiele von Helsinki 1952. Immerhin dauerte es danach 36 Jahre, bis für den Bund Deutscher Radfahrer (BDR) bei einem olympischen Straßenrennen wieder Plätze auf dem Siegerpodest abfielen. Die Entscheidung von Helsinki liefert ein Paradebeispiel dafür, welch kluger Taktiker Ziegler im Radsattel war. 40 Kilometer vor dem Ziel war klar, dass die Entscheidung in der vierköpfigen Spitzengruppe fallen würde. Nur: Ziegler sah sich mit Noyelle, Grondelaers und Victor drei Belgiern gegenüber, die Blechmedaille schien für ihn reserviert. "Sie zogen abwechselnd Spurts an, wollten mich kaputt machen. Es war klar, dass ich das nicht durchstehen konnte", erinnert sich Ziegler. Er entschied sich dafür, "zwei fahren zu lassen und beim stärksten zu bleiben. Ich habe bestimmt, wer Gold gewinnt." Im entscheidenden Spurt um Rang drei distanzierte er Victor sicher.
Daheim in Schweinfurt gab es einen großen Empfang für Ziegler und Oskar Zeißner, seinen engen Freund und Vereinskameraden vom RV 89, der in drei Stürze verwickelt und dennoch Siebter geworden war. "Wäre ich nur bei dir geblieben, dann hätten wir Silber sicher gehabt", grämte sich Zeißner. Die ganze Stadt war auf den Beinen, als die beiden am Hauptbahnhof ankamen.
Mit 16 Jahren erlebte Ziegler im Schweinfurter Willy-Sachs-Stadion sein erstes Aschenbahn-Rennen, das von aus dem Krieg heimgekehrten Profis bestritten wurde. Es war der Auslöser für ihn, sich über Bekannte ein Rennrad zu besorgen und in den RV 89 einzutreten. "Mit wenig Trainingsaufwand hatte ich sofort gute Erfolge." Und er lebte für seinen Sport. Das bekam auch seine spätere Frau Ruth, die er 1952 kennen lernte, schnell mit. Als erstes Geschenk erhielt sie ein Fahrrad, das Edi aus gewonnen Sachpreisen zusammen gebaut hatte. "Nach Weihnachten gab es keine gemeinsamen Spaziergänge mehr, da begann seine Saisonvorbereitung und ich musste ihn auf dem Rad begleiten."
Die Verbindung mit Fichtel& Sachs brachte optimale Bedingungen. Ziegler war mit drei weiteren Fahrern des RV 89 in der Naben-Versuchsabteilung angestellt. Sie fuhren Tests auf der Langstrecke oder am Berg, um die Naben auf Verschleiß und Bruchfestigkeit zu prüfen. Mit einem Reklame-Fahrzeug der Firma ging es zu den Rennen. "Der blaue Sachs-Hanomag war gefürchtet", sagt Ziegler, denn dann wussten die anderen Fahrer, sie würden einen schweren Stand haben. Es war Firmenpolitik, dass die 89er die Torpedo-Nabe mit Rücktrittbremse fahren mussten. "Die war dreimal so schwer wie die Naben der Konkurrenz", schmunzelt Ziegler. Die leichte Leerlauf- Nabe hatte Sachs für den Profi- Sport reserviert, "aber wir haben uns daran gewöhnt."
Die Dominanz der Schweinfurter "Nabenknaben"
Härte mussten die Fahrer ohnehin mitbringen. Die Straßen waren schlecht, Betreuung durch Materialwagen unbekannt. Für den häufigen Fall eines Defekts hatte jeder Fahrer einen Schlauchreifen umhängen. Wenn allerdings die Gabel brach, wie es Ziegler bei der Weltmeisterschaft 1953 in Lugano passierte, dann war das Rennen schlicht und einfach beendet. Ohnehin bildeten die sechs Weltmeisterschaften in Folge ein rabenschwarzes Kapitel. Stets passierte etwas, nie kam Ziegler durch. Konstanz der positiven Art zeigte er dagegen im Straßenvierer des RV 89, den er als Kapitän zu sieben deutschen Meisterschaften führte. Die Dominanz der Schweinfurter "Nabenknaben" war "nur durch Freundschaft" (Ziegler) möglich. Und wenn mal einer entkräftet vom Rad kippte wie Otto Karrlein 1953 kurz vor dem Ziel in Augsburg, dann zerrten ihn die anderen wieder in den Sattel und schoben ihn mit zum Sieg.
Die Olympischen Spiele von Melbourne 1956 sollten der zweite Höhepunkt in Zieglers großer Karriere werden. Dass er nicht für das vierköpfige, gesamtdeutsche Aufgebot nominiert wurde, läutete ihr Ende ein. Ziegler war ein Härtefall: in den ersten vier Qualifikationsrängen hatte er nicht genug Punkte sammelt, die letzten beiden wurden aus finanziellen Gründen abgesagt. Auf der anderen Seite war Ziegler 1956 insgesamt nochmals erfolgreichster West-Fahrer. "Unsere Funktionäre haben sich gegen die aus dem Osten nicht durchgesetzt", sagt er noch heute. Seine Motivation war schlagartig weg, er fiel in ein tiefes Loch. Der Wechsel zu den Berufsfahrern war "eine Trotzreaktion", aber Ziegler wurde nicht mehr der Alte und stellte das Rad gerade 27-Jährig in die Ecke.
Heute ist die Verbitterung natürlich gewichen. Die zehn Jahre Radsport hätten ihm, sagt Edi Ziegler, "große Anerkennung und viele Freunde bis heute" gebracht.