Ganz oben, ganz unten. Radrennfahrerin Lisa Fischer kennt beides. Und seit 2018 weiß die frühere EM- und WM-Teilnehmerin aus Eßleben auch, wie schnell sich das Blatt wenden kann: Im April nach einem Sturz beide Arme gebrochen, im Juli bei der deutschen Bahn-Meisterschaft Dritte im Zweier-Mannschaftsfahren. „Hätte ich mich nicht immer wieder zurückgekämpft, wäre ich nicht der Mensch, der ich jetzt bin“, sagt die 25-Jährige. „Ich war 2018 gut drauf, aber 2019 bin ich noch besser drauf.“ Sie träumt von den Olympischen Spielen 2020 in Tokio.
Wer zum Redaktionsbesuch direkt von einer Operation am Handgelenk, unter Vollnarkose, kommt, dem ist einiges zuzutrauen. Aber Olympia? Ohne eineinhalb Jahre davor im Kader des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) zu stehen? Sie hält den Ball flach, aber nicht ohne anzumerken: „Es ist nicht unmöglich. Vor Rio de Janeiro 2016 stand ich im Kader und habe alles weggeschenkt. Jetzt muss ich mich wieder reinkämpfen. Aber vielleicht ist genau das gut.“ Was für Fischer spricht? Ihre Entwicklung.
Schwere Verletzungen
Denn der Weg von Lisa Fischer war lange Zeit kein gerader, dafür ein steiniger. Da waren falsche Entscheidungen, vor allem schwere Verletzungen. Dabei ist ihre Radsport-Karriere, die sie als Kind beim RV 89 Schweinfurt begonnen hatte, ab 2008 so richtig ins Rollen gekommen: Wechsel ins Sportinternat nach Erfurt, Teilnahmen an den großen internationalen Wettkämpfen, je zwei deutsche Meistertitel in der Jugend und bei den Juniorinnen, zweimal Weltmeisterschafts-Vierte in der Eliteklasse und 2013 nationale Meisterin im Punktefahren. Der Weg nach Rio schien geebnet. „Mir kam da vieles entgegengeflogen, das war fast schon zu einfach“, erinnert sich die blonde, hübsche Frau mit gemischten Gefühlen.
Doch es gab auch die Schattenseiten des Hochleistungssports. In der Schule hatte sie von allen Athletinnen die meisten Fehltage, 180 in der Oberstufe. Bahn und Straße – ein gewaltiges Programm. Dennoch 2013 das Abitur in Thüringen gemacht. „Das ging nicht spurlos an mir vorbei“ – familiäre Probleme gesellten sich dazu, die Eltern hatten sich getrennt, „mein Vater hat versucht, Druck zu machen über die Schiene Unterhaltszahlung, nachdem ihm die Familie mit fünf Kindern zu viel geworden war.“ Klar, selbst als Spitzen-Radfahrerin ist der Sport eher ein Zuschussgeschäft. Fischer wurde alles zu viel, zumal der sportliche Druck durch die Olympiakader-Nominierung gewachsen war.
Grundausbildung bei der Bundeswehr
"Ich habe mich Niemandem geöffnet, mich versteckt“, fühlte sich die Athletin („du bist als Sportler ein Nutzungsobjekt“) nicht nur dem Erfurter „maxx-solar LINDIG woman cycling Team“ verpflichtet nach der einfachen Formel: Die Förderung muss in Leistung zurückgezahlt werden. Auch der Bundeswehr, mit der sie einen Vertrag abgeschlossen hatte und Mitglied der Sportfördergruppe war. Als Obergefreiter mit sieben Wochen Grundausbildung auf dem Buckel. „Danach hast du aber nichts, nicht wie bei Bundespolizei eine Ausbildung“ – Gehalt für Leistung, quitt.
Plötzlich wurde für die damals 20-Jährige der Sport zur Plage: „Ich konnte nicht einfach sagen: Ich quäle mich heute halt auf die Arbeit. Nein, im Sport ist das immer mit dem Anspruch auf Höchstleistung verbunden.“ Sie wollte 2014 nur noch eines: die Belastung reduzieren. Ihr wurde ins Gewissen geredet, auch vom Bundestrainer, weil der Bundeswehr-Vertrag doch ein Geschenk sei; dennoch verzichtete sie auf die Bahn-Wettbewerbe, obwohl der Vertrag auch auf diese ausgelegt war.
Partys statt Leistungssport
Es folgte ein Fall ins Nichts. Fischer: „Ich hatte einen Burnout.“ Ende 2014 ging sie zurück nach Hause, handelte sich auch noch ob ihres plötzlich anderen Lebenswandels Ärger mit ihrer Mutter ein. Denn: 2015 spielten Sport im Allgemeinen und Radfahren im Besonderen zunächst kaum noch eine Rolle, Partys und gutes Essen umso mehr. „Natürlich bin ich gewichtsmäßig ganz schön auseinandergegangen“, kann Lisa Fischer darüber heute schmunzeln. „Es war letztlich nur eine kurze, aber dafür extreme Zeit. Ich bin eh eine extreme Persönlichkeit“ – ein Umstand, der ihr relativ leicht die Kehrtwendung erlaubte.
Mitte 2015 begann Fischer über den Sinn ihres Lebens nachzudenken. „Ich hatte nichts mehr. Alle haben mich belächelt. Ich habe mir wieder Ziele gesetzt, habe verstanden, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Ich wollte Sport machen, das gehört zu meinem Leben.“ Sie trainierte wieder nach Plan, die Leipziger Sportwissenschaftlerin Lisa Lutzke half ihr. „Ich wusste: Wenn ich es noch einmal anpacke, dann setzte ich mir bewusst ein hohes, vielleicht unrealistisches Ziel und nehme mir Zeit dafür. Meines ist Tokio 2020. Auch, um zu sehen, zu was ich fähig bin.“
Und 2016 war Lisa Fischer wieder da, immer noch etwas zu kräftig („hab mir gesagt, ich mache nie wieder Diäten; ich bin den schwersten Weg gegangen, nur über Sport“), wurde spöttisch begutachtet von Konkurrentinnen. Aber eine glaubt an sie: Vera Hohlfeld, selbst Olympia- und WM-Vierte sowie heute Leiterin des Teams maxx-solar LINDIG, des führenden in der Bundesliga.
Sie machte Fischer keine Geschenke, nominierte sie aber für eine international bedeutende und sehr schwere Rundfahrt in Tschechien. Für Fischer war's noch eine Nummer zu groß, sie kam mit Knieproblemen nach Hause. Als sie auf Anraten des Arztes eines Mai-Abends ausradelte, knallte sie in einen aus einem Grundstück kommenden Radfahrer, stürzte und kugelte sich die Schulter aus. Im August saß sie wieder im Sattel und gewann auf Anhieb ein Bundesliga-Zeitfahren. Es folgte eine recht unspektakuläre Saison 2017, Fischer wurde bayerische Meisterin – sie war wieder da.
Unterstützung von Markus Wolf
Das blieb auch Markus Wolf aus dem nur wenige Kilometer entfernten Rieden nicht verborgen. Der Vorsitzende und Hauptsponsor des FC 05 Schweinfurt, der Lisa Fischer 2010 schon mal unterstützt hatte, wollte ihren Olympia-Plan mittragen. „Das war auch ein Signal, mich anders zu verhalten“, so Fischer. „Ich bin auf Leute wie meinen Trainer in Erfurt zu, habe mich für mein Verhalten entschuldigt. Ich hatte aus Fehlern gelernt. Ohne Förderung geht es im Sport nicht. Und ich habe gesagt: 2018 muss ich durchstarten und mich wieder für den BDR anbieten.“
Und wieder kam es völlig anders. Im April war mit dem Team eine international stark besetzte Rundfahrt in Holland geplant. Fischer wollte es zu gut machen, fuhr mit zwei Teamkolleginnen früher hin, um zum Aufwärmen noch ein Rundstreckenrennen mit Prämiensprints zu absolvieren. Das lief prima, bis bei einem Prämiensprint ein Absperrgitter auf die Straße flog und sie mit 60 Stundenkilometern hinein raste – Sturz, Handgelenk des rechten, Ellbogen des linken Arms gebrochen.
Mehr Glück als Weltmeisterin Vogel
Zwei Monate später stürzte auch eine andere Radsportlerin: Kristina Vogel. „Ich hatte nach meinem Unglück noch gesagt: Habe ich ein Glück, nicht gelähmt zu sein.“ Die zweimalige Olympiasiegerin und mehrfache Weltmeisterin Vogel, die ebenfalls in Erfurt und auch schon gemeinsam mit Fischer trainierte, erlitt eine Querschnittslähmung. „Sie ist auch eine extreme, aber auch starke Persönlichkeit, unglaublich fokussiert“, sagt Fischer über Vogel („endlich bin ich frei von Druck“). Ihr gebe die Medienpräsenz Halt, „ich wäre ja nicht so im Rampenlicht. Ich wüsste nicht, was ich da tun würde“, so Fischer, die Stürze seit der Kindheit anzieht – so zeugte mal eine knochentiefe Platzwunde überm Auge von einem Frontalzusammenstoß mit einem Eisentor.
„Nach einem Unfall wie Kristinas wächst die Angst, aber ich versuche es zu verdrängen. Aber ich hatte wegen meinem kein Down“, erinnert sie sich, was ihr nach der OP in Erfurt durch den Kopf ging. „Ich habe an den Vertrag mit Markus Wolf gedacht, das ist als Einzelsportlerin ein Jackpot“ – das wollte Fischer nicht aufs Spiel setzen. So fuhr sie mit Doppelgips mit dem Zug nach Schweinfurt ins Fitnessstudio.
Nach einem Monat Ausfall und sechs Wochen Intensivtraining stand sie am Start der deutschen Meisterschaft über 140 Kilometer. Fischer riss mit fünf Fahrerinnen aus, hielt sich über 100 Kilometer und bis zu fünf Minuten Vorsprung vorn – um eingeholt zu werden. „Und das war gut“, denn Schmerzen in Hand und Ellbogen sowie immer stärker werdende Krämpfe hätten einen aussichtsreichen Sprint nicht zugelassen. „Aber ich habe auf mich aufmerksam gemacht.“
Prellung stellt sich als Bruch heraus
Im Juni absolvierte Fischer zwei Bundesliga-Rennen: Punktefahren und Zweier-Mannschaftsfahren mit Gudrun Stock (München) – und gewann beide. Im Juli wurde sie in Dudenhofen Dritte der Deutschen im Zweier-Mannschaftsfahren, das jetzt bei den Frauen olympisch ist. Natürlich lief auch dieses Rennen chaotisch für sie: Überschlag, Sturz auf den Kopf und aufgerappelt. Es wurden eine Prellung der Hand und eine Gehirnerschütterung diagnostiziert – später stellte sich die Prellung als Bruch heraus, der gut zusammengewachsen war.
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Letztlich war's eine unerwartet gute Saison, „aber nicht die, die mir die erhofften Türen eröffnet hätte“. Und dann meldete sich der Magen. Anfang letzten Jahres wurde eine chronische Gastritis festgestellt. „Wenn sich bei 160 bis 200 Puls der Magen zusammenzieht“, erklärt Fischer, warum sie kurz vor Weihnachten die deutsche Mehrkampfmeisterschaft (Omnium) zwar fahren konnte, die anvisierte Medaille aber verpasste.
Dafür hat sich eine andere große Chance ergeben: ein Fernstudium in Internationalem Management, einem Studiengang eigens für Spitzensportler. Doch parallel kehrten die Gedanken zurück zu den Aussagen des Vaters („mein Sport sei nur noch Hobby, ich solle endlich arbeiten gehen“). Inzwischen ist der Streit vor Gericht gelandet. „Ich habe bis vor kurzem wirklich ans Aufhören gedacht, deswegen und auch wegen der Gastritis.“
Kleines, lokales Umfeld aufgebaut
Erneut war Wolf der Retter ihrer Karriere: „Willst du echt aufgeben? Für mich wäre das keine Option.“ Dann habe er sein Handy gezückt, Kontakte genutzt. Kurz darauf ist Lisa Fischer in der Obhut von Physiotherapeut Peter Hofmann und wird ab April unter der Anleitung von Sportwissenschaftlern in Christian Haslers Schweinfurter Studio „Next Level“ zusätzlich zu den Radsport-Einheiten bei Lutzke gezielt ihre Arme aufbauen – und versuchen, die Gastritis in den Griff zu bekommen.
Es entstand ein kleines, lokales Umfeld. Zu dem auch der RV 89 Schweinfurt gehört. „Ich dachte: wow, was für ein Lichtblick. Geht's doch weiter?“ Am Ende stand die 180-Grad-Wendung: Fischer will in der im Ende März mit einem Bundesliga-Rennen beginnenden Saison fokussiert durchstarten.
Der BDR hat es registriert. Noch ist Fischer nicht im Förderprogramm. Aber sie erhält Nominierungen für größere Rennen. Sie trainiert 20 bis 25 Stunden die Woche. Der Ellbogen heilt. Aber: „Ich bin Perfektionist und will gut sein. Doch es gibt Bessere. Es ist noch nicht der Stand, den ich mir vorstelle.“ Sie opfert die Frühjahrsklassiker, will sich für die Thüringen-Rundfahrt und die deutsche Meisterschaft im Juni anbieten. Und der Olympia-Traum, ob Straße oder Bahn? „Dabeisein wäre schon wichtig, aber wenn ich es schaffen würde, wäre auch ein gewisser Anspruch da.“