
Im Sommer letzten Jahres saß Marc Reitmaier im wohl berühmtesten Fußballstadion der Welt. Am 13. Juli, um genau zu sein. Damals, im Maracana von Rio de Janeiro, sah er live, wie Deutschlands Nationalelf durch das1:0 über Argentinien Fußball-Weltmeister wurde. Macht Reitmaier künftig womöglich bald selbst die Weltmeister der Zukunft? Seit kurzem hat der 31-Jährige einen Vertrag als Talentsichter beim Bundesligisten 1899 Hoffenheim in der Tasche – und die Hoffenheimer kooperieren seit einiger Zeit mit einem bislang wohl einzigartigen Fußballprojekt in Indien. Dort sollen überall im Land die besten Nachwuchsspieler gesichtet und über Jahre ausgebildet werden. Unter anderem ab dem Frühjahr unter Profibedingungen in der Nachwuchsakademie in Hoffenheim.
Wer alles aus Neu Dehli oder Kalkutta in den Kraichgau kommt, darüber wird Reitmaier mitentscheiden. „Gemeinsam mit meinen deutschen Trainerkollegen Michel Dinzey und Ansgar Brinkmann stellen wir den 30 Mann starken Kader zusammen.“ In Indien hatte Reitmaier drei Wochen lang fast jeden Tag Nachwuchstalente gesichtet, mit ihnen gearbeitet, Daten ausgewertet. Und vor allem einfach genau hingeschaut. „Da ich seit fast einem Jahr auch am DFB-Nachwuchsstützpunkt in Steinfeld als Trainer arbeite, habe ich gute Vergleichsmöglichkeiten.“ Technisch etwa seien die Inder nicht weniger veranlagt als ihre deutschen Kontrahenten. Flink seien sie, wendig und beidfüßig stark. „Nur bei Robustheit, Körpergröße und taktischer Ausbildung mangelt es noch“, sagt Reitmaier, der im Moment noch den Bezirksligisten TSV/DJK Wiesentheid betreut.
Weil man das aber auf internationalem Parkett unbedingt brauche, wird auch ein Spieler von ihm für die weitere Ausbildung empfohlen, der derzeit vor allem eines ist: riesig für sein Alter: „Den müssen wir auf alle Fälle nehmen. Wenn du später gegen Deutschland oder England spielst, brauchst du solche Kanten – sonst verlierst du durch Standards und Kopfbälle mit 0:3“, blickt Reitmaier voraus. Und der Blick geht weit. Dreizehn bis vierzehn Jahre alt sind die meisten Talente. Sie sollen in zwei Jahren bei der U-17-WM in Indien im Konzert der großen Nationen mitmischen – am besten weit vorne. „Aus diesem Kader sollen dann auch viele Spieler für 2022 kommen“, sagt der Würzburger.
Die Qualifikation für die Wüsten-WM ist das finale Ziel. Deshalb auch die flächendeckende Talentsichtung, bei denen Jungs aus allen Teilen In-diens in zwanzig Städten bei ebenso vielen Turnieren vorspielten. „Wir sind permanent durchs Land geflogen. Das war stressig, aber eine tolle Erfahrung. Meine indischen Kollegen haben mich toll unterstützt und die Abläufe sehr gut geplant. Das gesamte Projekt ist unheimlich professionell aufgezogen. Denn am Ende soll ja eine konkurrenzfähige Nationalmannschaft Indiens stehen“, sagt Reitmaier.
Ob diese Vision Wahrheit wird, ist nicht abzusehen. Dennoch hat sich Reitmaier voller Enthusiasmus in das Abenteuer gestürzt, das über einen Kontakt mit dem Ex-Profi Sebastian Kneißl zustande kam. „Wir kennen uns schon länger. Eines Tages läutete mein Telefon, und der Chefscout der TSG Hoffenheim, Lutz Pfannenstiel, fragte, ob ich als Scout oder Trainer in Hoffenheim arbeiten wolle.“ Kurz darauf traf sich Reitmaier in Hoffenheim mit den TSG-Verantwortlichen. Er leitete ein kurzes Testtraining und schon war er mit im Boot. Besser gesagt: im Flugzeug. Denn bereits kurze Zeit später ging es für ihn Richtung Indien.
„Das war alles unglaublich spannend. Das riesige Land, das den Fußball immer mehr für sich entdeckt.“ Dort spielen in der kürzlich gegründeten indischen Profiliga ISL Ex-Stars wie David Trezeguet, Alessandro del Piero oder Alessandro Nesta. „Wenn du dann als Trainer mit einer UEFA- A-Lizenz aufläufst, schauen alle, machen Trainingsskizzen und Videoaufnahmen von den Einheiten“, erzählt Reitmaier. „Fast fühlst du dich selber wie ein Star. Mein engster Vertrauter vor Ort ist Salim Pathan vom Trainer-Team um den italienischen Fußballweltmeister Marco Materazzi, der ein indisches Team dort trainiert.“ Unter all den Ex-Kicker-Größen hätte auch Reitmaier einen Trainer-Job finden können. Vielleicht jedenfalls. „Ein Klub wollte gleich Vertragsgespräche mit mir führen“, berichtet Reitmaier. „Aber das ging natürlich nicht. Zum einen habe ich hier ja meinen Job in Ochsenfurt in der Bank, zum anderen reizt mich das Indienprojekt mit der TSG.“
Seinen derzeitigen Trainerposten beim TSV/DJK Wiesentheid, wo er in der zweiten Saison recht erfolgreich arbeitet, wird er zum Saisonende niederlegen. Die Mannschaft ist bereits informiert worden. Trotzdem will er auch nächste Saison ein Team in der Region trainieren. Und natürlich seine Nachwuchstalente in Indien. „Das ist schließlich ein Hammer-Projekt“, sagt Reitmaier. „Es gibt derzeit nur wenig Vergleichbares auf der Welt.“