An Heilig Abend bleibt das Fahrrad im Keller. An den beiden Feiertagen auch. Das hat Heinz Winkelmann seiner Frau versprochen. Genauso wie er versprochen hat, keine Straßen-Radrennen mehr zu fahren, sondern nur noch Zeitfahren. Mit seinen 83 Jahren solle er sich nicht mehr „mit den verrückten Italienern oder Holländern herumschlagen, die auch als Senioren noch wie die Büffel fahren und im Sprint die Ellbogen rausnehmen“. Das habe seine Karin ihm ans Herz gelegt. Und auf die hört der rüstige Rad-Rentner. Denn Karin Winkelmann ist schwer krank, ist Tag und Nacht an ein Sauerstoffgerät angeschlossen und kann alles brauchen, nur keinen Mann, der selbst darniederliegt.
Das mit dem liegen wäre für ihn selbst ohnehin der größte Graus. Heinz Winkelmann ist ein Fahrrad-Narr durch und durch, spulte vor gar nicht langer Zeit noch bis zu 15 000 Trainingskilometer im Jahr herunter. Und fuhr Rennen: die Bayerische, die Deutsche, internationale Rennen bis hin zur Senioren-Weltmeisterschaft im österreichischen St. Johann. Dort ist der gebürtige Würzburger, den es als Kind mit seinen Eltern in den Schweinfurter Raum verschlagen hat, immer noch Stammgast; nur der Wettbewerb steht seit 2014 nicht länger unter dem Radsport-Weltverband UCI, gilt nicht mehr als WM.
Weltpokal nennen die Österreicher ihr Rennen jetzt, doch Winkelmann ist's grad egal: So ein bisschen darf er sich nach Rang zwei in der Altersklasse der über Achtzigjährigen im Vorjahr trotzdem Weltmeister nennen – im August 2017 wurde er wieder Zweiter, erhielt dann die Nachricht von der Disqualifikation des Siegers („ich schätze, der war gedopt“) und dass er die Goldmedaille zugestellt bekäme.
Die silberne schickte Winkelmann aber nicht zurück: „Die geht ins Museum.“ Seit Jahren stiftet er seine Pokale und zum Teil auch Räder den Ausstellungen in Hambach und in seinem Wohnort Gochsheim, wo er auch noch bei der BSG schießt und in den letzten drei Jahren Vize-Bezirksmeister mit der Armbrust wurde. „Ich habe so viele Auszeichnungen, ich weiß gar nicht mehr, wohin damit.“ Ja, die hat der Rad-Oldie, dessen Karriere eine große Lücke aufweist: 1951 hat er sein erstes A-Jugend-Rennen für den RV 92 Schweinfurt bestritten, ein Jahr später war er Bezirksmeister und mit der Mannschaft Vierter der Bayerischen. So ging das bis 1955, dann hat Heinz Winkelmann seine Karin geheiratet, ging zur Bundeswehr und wurde Vater. „Da war kein Platz mehr für den Radsport. Es ist mir sehr schwer gefallen, aber ich musste halt zurückstecken“, erinnert er sich. Als Zuschauer blieb er seiner Leidenschaft aber treu.
Und dann sollte ausgerechnet die Krankheit der Gattin mitausschlaggebend sein für den zweiten Radsport-Frühling des damals 64-Jährigen. 1998 war Karin Winkelmann bereits erkrankt, die ehemalige Friseurin hatte durch den jahrzehntelangen Umgang mit Färbe- und Bleichmitteln eine Atemwegserkrankung bekommen. Und da Heinz Winkelmanns Bruder Walter im sonnigen Florida zu Hause war, überwinterte das Paar bis 2009 stets sechs Monate lang in Fort Lauterdale. „Für meine Frau war das Klima sehr hilfreich und ich konnte radeln. Sechs Tage die Woche habe ich trainiert, 6000 Kilometer runter gerissen.“ Er kaufte sich von der Schweinfurter Radsport-Legende Edi Ziegler ein gebrauchtes Rennsport-Rad und nahm es mit in die USA.
Und plötzlich war der Kfz-Meister im Ruhestand, der selbstverständlich alle Schraubarbeiten am Rad selbst erledigt („ich speiche auch ein und zentriere“), fitter denn je. Er schloss sich dem RV 89 Schweinfurt an und fuhr Rennen um Rennen: Dritter der Mainfranken-Tour in der Seniorenwertung 2003, Fünfter der Bayerischen im Zeitfahren 2004, Fünfter der Deutschen im Zeitfahren 2012 bis hin zum inoffiziellen WM-Titel 2017. Und in St. Johann fahren schließlich „nicht nur vier, fünf Hansel, da sind rund 25 bis 30 Fahrer in meiner Klasse am Start“.
Deswegen gab's auch die Würdigung des Bundes Deutscher Radfahrer in Form der Aufnahme in die Bundesehrengilde des BDR. Die Erfolge füllen ein dickes Notizbuch. Heinz Winkelmann schreibt alles ordentlich auf.
Seine Akribie kommt auch seiner Frau zugute. 2009 mussten die Winkelmanns mit dem Schiff aus den USA zurück, Karin war nicht flugtauglich. „Da habe ich geahnt, dass es schwierig wird“, erinnert sich ihr Mann. Und er sollte Recht behalten: Karin Winkelmann musste länger in die Klinik, wurde ein Pflegefall. Zunächst brauchte sie das lebensrettende Sauerstoffgerät fünf bis acht Stunden am Tag, seit 2011 rund um die Uhr. Und möglichst immer unter Beaufsichtigung. Will Heinz Winkelmann trainieren, muss er sich eine Vertretung suchen. Einmal in der Woche kommt eine Betreuerin von der Diakonie, auch die Nachbarin hilft. Ist er früher fünf bis sechs Mal die Woche jeweils 70, 80 Kilometer auf seinem High-Tech-Gefährt unterwegs gewesen, sind's inzwischen eher 40, 50 Kilometer an drei bis vier Tagen. Und wenn die Nachbarin mal keine Zeit hat, dann muss Heinz Winkelmann eben herumtelefonieren.
Die Wohnung verlässt Karin Winkelmann nur noch selten, in diesem Sommer war sie aber samt Apparatur eineinhalb Wochen in St. Johann dabei. Ihr Mann trainierte ein wenig, führ sein Rennen gegen die Uhr und traf vor allem jede Menge Bekannte: „Wir sind da eine richtige Clique.“ Und deswegen will er auch noch nicht ganz ans Aufhören denken: „So lange der Arzt mir für meine BDR-Lizenz die nötige Bescheinigung ausstellt, bleibe ich dabei“ – seien es auch nur noch vielleicht die Bayerische oder Deutsche im Zeitfahren, sowie sein geliebtes Rennen in Österreich. Bei dem ihm aufgefallen ist, dass immer weniger „Verrückte“ nachkommen und das Teilnehmerfeld halt immer ein kleines bisschen kleiner wird: „Im Schnitt fällt jedes Jahr einer weg, entweder kann er nicht mehr – oder er stirbt.“ Mit 83 nimmt man das Leben eben mit dem nötigen Humor.