Im professionellen Schach wird streng auf Etikette geachtet. Bei wichtigen Turnieren erscheinen die Spieler oft im Anzug, es wird absolute Ruhe verordnet, technische Geräte sind tabu. Wer seine Spielfiguren unerlaubt berührt, muss dies mit einer französischen Floskel rechtfertigen. Viele dieser Normen haben ihre Ursprünge vor hunderten von Jahren. Zugleich erfährt der traditionsreiche Denksport gerade eine neue Blütezeit - und das ausgerechnet durch die moderne Technik.
Seit rund 1500 Jahren spielen Menschen Versionen von Schach, seit immerhin 140 Jahren haben sich die international anerkannten Grundregeln nicht mehr geändert. Jetzt profitiert keine andere Sportart so sehr von der Digitalisierung. "Streaming", also die direkte Übertragung des Spiels durch einzelne Personen ins Internet, ist enorm populär geworden. Einige Kanäle erreichen ein Millionenpublikum. Wo früher eher dröge die Partien analysiert wurden - was nur einem Nischenpublikum Unterhaltungswert bietet - bereichern Kanäle wie "Gotham Chess" die Besprechungen der Spiele mit locker-flockigen Gedanken zu den Spitzenspielern und deren Marotten.
Magnus Carlsen: Weltklasse-Schachspieler mit ausgeprägtem Ego
Das bietet sich insofern an, als Weltklasse-Schachspieler zu einer gewissen Exzentrik neigen. Bestes Beispiel ist der Norweger Magnus Carlsen, der vielen als bester Spieler aller Zeiten gilt. Der fünffache Weltmeister hat in den vergangenen zehn Jahren nicht nur restlos alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Er hat auch ein ausgeprägtes Ego und sich in dieser Zeit eine beachtliche Riege an Rivalen angesammelt. Vor einigen Monaten etwa brach er wütend ein Turnier ab und bezichtigte seinen Kontrahenten im Anschluss des Betrugs - und das nur, weil ihn dieser besiegt hatte. Anderntags fabulierte er über Regeländerungen, gab später seinen WM-Titel kampflos auf oder spielte Bier trinkend zu Hause vor laufender Kamera. Der Superstar bietet damit, ganz im Stile des Hauptcharakters einer Fernseh-Seifenoper, stets reichlich Gesprächsstoff.
Die stundenlangen geistigen Duelle auf dem Schachbrett verlangen den Spielern viel ab. Deren Angespanntheit entlädt sich bei Fehlern häufig in Grimassen und unterhaltsamen Gefühlsregungen. Das trägt maßgeblich zur Beliebtheit der Übertragungen im Internet bei. Während digital ausgetragenen Turnieren, wo sich statt mit realen Figuren auf einem virtuellen Brett duelliert wird, müssen die Kontrahenten ihre Webcams eingeschaltet lassen. Diese lassen kein unvorteilhaftes Zucken im Gesicht unbemerkt. Sehr zur Freude der Fans.
Durch die heutigen Möglichkeiten der Übertragung sind überdies Frauen in der Schachwelt deutlich präsenter geworden. Junge Schachspielerinnen wie die Schwedin Anna Cramlin brechen mit den zuweilen steifen Normen des Spiels - etwa, wenn sie ungezwungen ihre Spiele im Park gegen Herausforderer ins Internet übertragen.
Man kann selbst gegen digitale Abbilder der Spitzenspieler spielen
Doch die moderne Technik macht für Zuschauerinnen und Zuschauer das Spiel noch auf andere Art zugänglicher. Während für die Kontrahenten selbst jegliche technische Unterstützung während der Spiele tabu ist, kann das Publikum den Spielverlauf im Internet kinderleicht analysieren lassen - und in diesem Moment mehr wissen als die Großmeister. Und nicht nur das: Wenn sie Lust verspüren, können sie die Partien sogar "persönlich" gegen einen der Spieler nachspielen. Denn für die besten existieren sogenannte "Bots". Im Prinzip handelt es sich um deren digitale Abbilder. Künstliche Intelligenz ist in der Lage, ihre Spielweise zu kopieren.
Im Zeitalter der Internet-Clips führt das bisweilen zu absurd-komischen Situationen. Der Inder Vishy Anand etwa, der mit seinen 53 Jahren immer noch zur Weltspitze gehört, spielt in einem millionenfach angeklickten Video auf YouTube gegen sein digitales Konterfei - und zeigt sich von seiner "eigenen" Spielweise genervt.