Weihnachten war heuer etwas ganz anderes. „Zum ersten Mal war ich von meiner Familie weg“, sagt Thilo Wilke. Wie gut, dass ein Freund in die USA geflogen ist und die Geschenke von den Lieben zu Hause im unterfränkischen Karlstadt mitgebracht hat. Wilkes Lebensmittelpunkt sind seit einem Jahr die Vereinigten Staaten. Sein Leben dreht sich hauptsächlich um Fußball und Studium. In der Reihenfolge. Während der 26-Jährige hierzulande ein guter Landesliga-Kicker bei der FT Schweinfurt, beim TSV Karlburg, mal kurz in der Bayernliga in Aubstadt und zuletzt beim TSV Abtswind war, dazu noch Handballer in Karlstadt, ist er in den USA eine Führungspersönlichkeit, die sogar Fußballgeschichte geschrieben hat. Nun träumt Wilke vom Profi-Fußball.
Es begann damit, dass Wilke meinte, ein Auslandjahr täte seinem BWL-Studium und seinen Englisch-Kenntnissen gut. Zudem wollte er noch mal etwas Neues wagen, auch fußballerisch. Wilke bewarb sich in den USA mit einem aus Abtswinder Spielszenen zusammengeschnittenen Video und bekam tatsächlich einige Angebote von Universitäten. „Ich habe mich dann für die Shaw University in Raleigh entschieden. Das ist eine gute Uni mit einer großen Tradition.
“ Die Uni hatte ihn mit einem Teil-Stipendium geködert, denn ein Studienjahr kostet 25 000 US-Dollar. „Außerdem gab es da ein neues Fußball-Programm, das war reizvoll dort eine Mannschaft aufzubauen.“
So landete Wilke also in der Hauptstadt von North Carolina, einem Staat aus dem so genannten „Bible Belt“ (zu Deutsch: Bibel-Gürtel) im Süden. Die Stadt hat 460 000 Einwohner, bildet aber mit den benachbarten Chapell Hill und Durham eine Metropolregion mit 1,1 Millionen Menschen. Es ist ein Standort für Hochtechnologie, auch deutsche Weltfirmen wie Bayer, BASF oder Siemens sind dort vertreten. Der Sozial- und Bildungsstatus gilt als sehr hoch. Die Shaw University ist mit nur 1800 Studenten eher klein und dennoch etwas ganz besonderes: Die 1865 gegründete Uni war die erste, die nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg ausschließlich für Afro-Amerikaner eingerichtet wurde, die erste „Schwarze“ Universität in den Südstaaten, die erste, die ein Medizin-, Jura- und Pharmaziestudium für Afro-Amerikaner anbot und auch Frauen zuließ.
Zahlreiche hochkarätige Politiker und Sportler sind Shaw-Absolventen, in Deutschland am bekanntesten dürfte die Sängerin Gladys Knight („That's what Friends are for“) sein. „Das war am Anfang schon ein seltsames Gefühl dort“, erzählt Wilke. „Ich bin sehr heimatverbunden, vermisse auch meine Karlstädter Handballer oder die Würzburger Innenstadt. Für mich war es mit knapp 20 damals schon ein Riesenschritt, nach Schweinfurt zur FTS zu wechseln. Und nun Amerika. Aber an der Uni gibt es die freundlichsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Man findet sofort Freunde.“ An der ganzen Uni gebe es höchstens 20, 30 Weiße, so der gebürtige Würzburger, „und die spielen alle Fußball oder Tennis für die Uni-Mannschaft“. In Raleigh lebt Wilke in einem reinen Appartement-Viertel in einer WG zusammen mit einem Serben, einem Brasilianer und einem Studenten aus Trinidad.
Bei seinem neuen Team stieß Wilke auf einen international zusammengewürfelten Haufen. Der Trainer ist mit Luis Cortell ein Spanier, neben US-Amerikanern finden sich Studenten aus England, Serbien, Brasilien, Kolumbien oder Trinidad/Tobago. Wilke, der einzige Deutsche, schien von Anfang an Eindruck hinterlassen zu haben: Er bekam die begehrte Nummer zehn und wurde Kapitän. Und er schrieb Uni-Geschichte, weil er beim 1:1 gegen die Emmanuel-Uni/Georgia das erste Tor überhaupt für die „Shaw Bears“ (Bären) erzielte. Insgesamt kam er mit 14 Toren und zwei Assists in 14 Pflichtspielen (sechs Siege/zwei Unentschieden/sechs Niederlagen) auf einen Spitzenwert. Wobei im Frühjahrssemester keine Partien absolviert werden, die Punkterunde findet nur von August bis November statt. „Es ist mit Deutschland nicht zu vergleichen“, sagt der 26-jährige. „Weil wir ein neues Team hatten, wurden wir noch keiner regionalen Conference zugeteilt. Sprich, wir mussten uns unsere Gegner selbst suchen und hatten nur Auswärtsspiele. Da waren wir dann teilweise bis zu fünf Tage am Stück unterwegs und haben im Hotel geschlafen.
“ Auch gebe es keine feste Punktzahl für einen Sieg, jedes Team ist in einem Ranking und je höher eine Mannschaft gelistet ist, umso mehr Punkte gibt es. Am Ende reichte es dann für die „Bears“ trotz einer ordentlichen Premierenbilanz nicht für die Play-offs.
„Nächstes Jahr werden wir einer Conference zugeteilt und dürfen zu Hause antreten, da bin ich mal gespannt, was da los ist.“ Wobei Shaw nicht in der Ersten College-Liga, sondern in der so genannten NCAA II angesiedelt ist. „Das hat aber nichts mit der sportlichen Leistungsfähigkeit zu tun, sondern mit der Größe des Sportprogramms der Uni und deren Renommee. In der Ersten Liga spielen die bekanntesten Unis, wie Harvard, Yale oder Berkeley.“
College- oder Uni-Sport ist in den USA eine große Sache. „Wir trainieren quasi unter Profibedingungen, jeden Tag ein- bis zweimal. Und 72 Stunden vor einem Spiel gilt Alkoholverbot.“ Zudem seien Pressekonferenzen, eigene Autogrammkarten und Interviewanfragen der Medien selbstverständlich. Alleine das tägliche Training habe ihn schon erheblich vorangebracht, sagt Wilke. „Ich habe mehr gelernt als in den letzten drei, vier Jahren zusammen.“
So viel, dass er nun sogar noch als „Spätberufener“ vom Profi-Fußball träumt. Den ersten Schritt machte er in den Semesterferien. In den USA gibt es außerhalb des Unisports nur drei Profi- und zwei Halbprofiligen. Wer es aus dem College beziehungsweise der Uni nach oben schaffen will, muss sich in einer dieser Halbprofi-Ligen bewähren, die praktischerweise in den Semesterferien von Mai bis August spielen. Wilke hatte wieder Glück, der kanadische Coach Luke Cory lud ihn aufgrund seines Videos zum Vorspielen nach Rochester/Minnesota ein und gab ihm einen Vertrag. „Da kommen bis zu 200 Spieler, und jeder zahlt um die 50 Dollar, nur, um vorspielen zu dürfen“, berichtet Wilke „und genommen werden höchstens eine Handvoll.“
So wurde der Unterfranke Spieler beim neu gegründeten FC Med City Rochester. So benannt, weil in der 110 000-Einwohner-Stadt im Norden der USA die Mayo-Klinik, das renommierteste Krankenhaus der USA steht, das auch für die Behandlung der US-Präsidenten zuständig ist. Auch dort wurde Wilke Teil der Vereinsgeschichte: Er erzielte in der National Premier Soccer League (NPSL) erneut das erste Tor der Klubgeschichte. Weil das Team das letzte Saisonspiel mit 0:1 verlor, verpasste Rochester knapp die Play-offs.
In den USA steige das Interesse für Fußball. In der Halb-Profi-Liga kickte der FC Med City schon mal vor 5000 bis 6000 Zuschauern. „Als Student durfte ich aber kein Geld annehmen, sonst würde ich den Studienplatz verlieren“, sagt Wilke. „Wir hatten aber Kost, Logis, Ausrüstung und Reisen frei, so, dass man quasi kein Geld gebraucht hat.“
Eigentlich wollte Wilke an Silvester wieder zu Hause sein. „Ich werde aber ein weiteres Jahr verlängern. Mein Trainer an der Uni hat mir ein verbessertes Angebot gemacht, sprich das Stipendium erhöht.“ Nebenbei will er an dem arbeiten, was er „meinen Traum vom Profitum“ nennt. Ein Ziel könnte die Major League Soccer sein, also die Liga, in der auch Bastian Schweinsteiger spielt.
Um sich Tipps zu holen hat ihm sein Abtswinder Ex-Trainer Petr Skarabela den Kontakt zu Julian Gressel vermittelt. Der 24-jährige aus Neustadt/Aisch spielt seit einer Saison bei Atlanta United in der MLS und wurde gerade zum „Rookie of the Year“ gewählt. „Wenn es in den USA nichts wird, gibt es auch noch andere interessante Länder, in denen ich es versuchen könnte, zum Beispiel Zypern, Australien oder Neuseeland.
“ Und wenn gar nichts geht, will er zurück nach Deutschland, am liebsten zum TSV Abtswind. Wie sehr sich der Würzburger verbessert hat, das können die Abtswinder im Januar testen. Da kommt der „verlorene Sohn“ für zehn Tage zurück nach Deutschland. Am 5. Januar will er mit einer Gastspielgenehmigung für den Landesligisten beim Nachtturnier in Wiesentheid antreten.
„Wenn es in den USA nichts
wird, gibt es noch andere interessante Länder, in denen ich es versuchen könnte.“