Hallo Herr Zimmermann, Sie haben jetzt nach 31 internationalen Rennen über 13.000 Rennkilometer in den Beinen. Sind Sie froh, dass die Saison vorüber ist?
Georg Zimmermann : Ich freue mich jetzt auf die freie Zeit. Die Saison war sehr sehr lang. Mein erstes Rennen hatte ich im Februar.
Wie verbringt ein Radprofi seinen Urlaub?
Zimmermann : Die ersten drei Wochen habe ich vor, mich überhaupt nicht mit dem Radsport zu beschäftigen. Da wird das Rad auch in der Ecke stehen bleiben. Ich werde auch keine Mails lesen oder Ähnliches. Eigentlich hatten meine Freundin und ich vor, in Israel Urlaub zu machen. Aber das geht unter diesen Umständen leider nicht. Jetzt fliegen wir nach Spanien in die Nähe von Valencia. Da hat ein Freund ein Ferienhaus. Wir schauen uns erst zwei, drei Tage Valencia an und danach sind wir noch fünf, sechs Tage mit unseren Freunden zusammen.
Wenn Sie Ihr Rennjahr Revue passieren lassen: Welche Momente sind da am präsentesten?
Zimmermann: Die intensivste Erfahrung war der Etappensieg beim Criterium Dauphine. Das war mein erster Erfolg in einem WorldTour-Rennen. Und dann ist da noch mein zweiter Platz bei der 10. Etappe bei der Tour de France.
Sie haben immer gesagt, ein Etappensieg bei der Tour ist wie ein Ritterschlag. Ihnen haben nur ein paar Meter gefehlt.
Zimmermann : Es fällt mir immer noch schwer, dieses Resultat einzuordnen. Irgendwo bin ich stolz auf dieses super Ergebnis, aber dann denke ich mir schon, dass ich da eine viel, viel größere Möglichkeit ausgelassen habe.
400 Meter vor dem Ziel haben Sie im Zweikampf mit dem Spanier Pello Bilbao angegriffen, sich für den falschen Gang entschieden. Waren Sie zu blauäugig?
Zimmermann : Vielleicht. Hinterher ist es immer leicht zu sagen. Aber ich glaube, wenn ich einfach auf den letzten zwei, drei Kilometern nichts gemacht hätte, außer meine Kräfte für die letzten 200, 300 Meter zu schonen, hätte ich die Etappe wohl gewonnen. Aber hätte, bringt nichts.
Trotzdem, ihr viertes Profijahr war bislang ihr erfolgreichstes. Was waren die Gründe?
Zimmermann : Ein großer Faktor war, dass ich ohne großen Sturz und ohne große Krankheit durch die Saison gekommen bin. Dann hat mich das Team richtig effektiv eingesetzt. Bei der Auswahl der Rennen und auch der Position innerhalb der Mannschaft. Da haben die Teamverantwortlichen das Maximum aus mir rausgeholt. Und dann habe ich auch sehr hart an mir gearbeitet.
Sie haben sich in der erweiterten Weltspitze etabliert. Merken Sie das auch im sportlichen Alltag?
Zimmermann: Auf jeden Fall. In der Berichterstattung nach der Tour de France wurde ich besonders bei den Eintages-Rennen immer öfters im erweiterten Favoritenkreis eingeordnet. Und während der Rennen achten die anderen Fahrer ganz anders auf mich. Als Außenseiter war das einfacher. Und da gibt es noch ein Erlebnis …
Welches?
Zimmermann : Auf dem Flug vor wenigen Tagen zum Rennen nach Japan saß ich neben dem zweifachen Weltmeister Julian Alaphilippe. Ich war mir nicht so sicher, ob er mich erkannt hat. Aber dann hat er mich angesprochen und gesagt, dass ich ein echt krasses Jahr gefahren bin und ich ein richtig guter Rennfahrer sei. Das hat mich schon gefreut.
Aber das Radsportjahr 2023 hatte nicht nur großartige Momente. Im Juni ist der 26-jährige Schweizer Profi Gino Mäder bei der Tour de Suisse auf der Abfahrt vom Albula-Pass tödlich verunglückt. Er war ein guter Bekannter von Ihnen. Wie haben Sie diese Tragödie erlebt?
Zimmermann : Wir waren auf dem Weg nach Livigno ins Trainingslager. Das ist nur rund 50 Kilometer vom Unglücksort entfernt. Ich bin dann während des Trainingslagers einmal zur Unglücksstelle hingefahren, habe eine Kerze aufgestellt und ein paar Minuten an ihn gedacht. Das war sehr emotional.
Hat dieser Unfall ihre Fahrweise im Peloton verändert?
Zimmermann : Nein. Das war ein tragischer Unfall, bei dem alles Pech der Welt zusammengekommen ist.
Also meinen Sie nicht, dass der Grat zwischen Spektakel und Risiko bei den Rennen immer schmaler wird, dass die Veranstalter bei der Streckenführung immer riskanter agieren?
Zimmermann : Das kann man schon so sehen, aber auch die Mentalität, wie Rennen von uns gefahren werden, hat sich geändert. Vor ein paar Jahren haben die Bergetappen so funktioniert, dass man bergauf attackiert und Vollgas gegeben hat. Bei den Abfahrten ist man dann schon schnell gefahren, aber irgendwie gemeinsam und am nächsten Berg ging es wieder los. Mittlerweile ist es so, dass die Abfahrten bewusst gewählt werden, um Attacken zu setzen und um halt irgendwie den Unterschied zu machen. Das hat sich gewandelt, da wird mit viel mehr Risiko gefahren. Das ist jetzt einfach ein Teil der Renntaktik.
Woher kommt dieser Wandel?
Zimmermann : Ich glaube, dass einfach alles noch professioneller wird, dass man halt einfach keine Chance mehr auslassen kann und will, um irgendwie einen Vorsprung herauszuholen.
Bei der Tour de France ist nach den spektakulären Leistungen der Spitzenfahrer und dem souveränen Sieg von Jonas Vingegaard die Dopingproblematik wieder hochgekocht. Wie sehen Sie dieses Thema als ein Beteiligter im Rennzirkus?
Zimmermann : Eine gute Frage, die schwer zu beantworten ist. Das waren auch für mich atemberaubende Leistungen, weil die Zeiten wirklich immer schneller werden. Ich denke, die Entwicklung kommt hauptsächlich daher, dass die Teams immer strukturierter und professioneller arbeiten. Ein Beispiel: Ineos-Grenadiers war lange das führende WorldTour-Team und wurde jetzt abgelöst, weil sie es versäumt haben, genügend in Trainingswissenschaften zu investieren, um sich dort weiterzuentwickeln. Da wird jetzt noch professioneller und noch akribischer gearbeitet. Das ist der Wandel der Zeit und auch in anderen Sportarten zu sehen. Vor zehn Jahren hätte im Fußball auch keiner geglaubt, dass ein Spieler wie Erling Haaland mit 90 Kilogramm so dynamisch über den Platz marschiert.
Also wird im Radrennsport nicht mehr gedopt?
Zimmermann : Hm, ich denke, es wird wesentlich weniger gedopt. Wie wenig, weiß ich nicht. Es wird immer Betrüger geben, die gibt es überall. Aber ich glaube, Doping ist nicht der ausschlaggebende Punkt, sondern einfach die perfektionierten Trainingsmethoden.
Wo beginnt für Sie Doping?
Zimmermann : Die Nada hat da drei Kriterien festgelegt. Ich google schnell. Da heißt es: „Doping ist die Verabreichung oder der Gebrauch von körperfremden Substanzen in jeder Form oder physiologischen Substanzen in abnormaler Form oder auf abnormalem Wege an gesunde Personen mit dem einzigen Ziel der künstlichen und unfairen Steigerung der Leistung für den Wettkampf.“ Dem schließe ich mich an.
Doping kommt für Sie also nicht in Frage?
Zimmermann : Nein.
Sie haben erwähnt, dass Sie hart an sich gearbeitet haben.
Zimmermann : Ich habe meinen Fokus auf meine Ernährung gelegt. Ich schätze, dass ich vielleicht noch zehn Prozent besser werden kann, indem ich mein Training verbessere, das ist schon ziemlich ausgereizt, 20 Prozent, indem ich mich noch intensiver mit meinem Equipment auseinandersetze, aber 70 Prozent, indem ich meine Ernährung optimiere.
Wie muss man sich das vorstellen?
Zimmermann : Erstens, bin ich viel mehr in Kontakt mit dem Ernährungsberater unserer Mannschaft. Und ich ernähre mich einfach viel bewusster und lass mich weniger von den Emotionen leiten.
Das müssen Sie erklären.
Zimmermann: Bisher war es so, dass ich mich während der Trainingsfahrten so ernährt habe, dass ich irgendwie das Training gepackt hatte und danach so richtig kaputt und ausgehungert nach Hause gekommen bin. Dann habe ich schnell was gegessen, das einfach satt machte und die Kohlenhydratspeicher wieder aufgefüllt hat. Jetzt ist meine Strategie, dass ich schon während des Trainings oder während des Wettkampfs meine Speicher über Bananen oder Energieriegel so auffülle, dass ich gar nicht erst so ausgehungert, kaputt und leer vom Rad steige. Dann kann ich in Ruhe duschen, mir ohne Hetze etwas kochen und so das Ganze viel bewusster angehen.
Also gibt es keine Lieblingsspeisen mehr?
Zimmermann : Natürlich esse ich schon noch ab und zu einen Döner, oder etwas Schokolade. Aber eben nicht mehr eine Tafel am Tag, sondern eine über die Woche verteilt. Unser Kalorienverbrauch ist so hoch, dass das kein Problem ist. Aber ich mache es jetzt alles viel bewusster.
Ihr Vertrag beim Team Intermarché-Wanty läuft 2024 aus. Gibt es schon Gespräche über eine mögliche Verlängerung?
Zimmermann : Er läuft noch ein Jahr und drei Monate. Aktuell gibt es keine Gespräche. Ich denke, dass es so im Mai, Juni nächsten Jahres Fahrt aufnehmen wird. Und dann schauen wir mal, was passiert.
Was sind ihre Ziele 2024?
Zimmermann : Natürlich ist das große Ziel meiner Karriere weiterhin, irgendwann eine Etappe bei der Tour de France zu gewinnen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es nächstes Jahr wieder eine gute Möglichkeit wäre. Und dann finden 2024 ja die Olympischen Spiele in Frankreich statt. Eine Teilnahme wäre ein Riesentraum, der da für mich in Erfüllung gehen könnte.
Aber Deutschland hat nur zwei Startplätze beim Straßenrennen.
Zimmermann : Das stimmt. Am Ende wird das Bundestrainer Andre Greipel entscheiden. Ich denke, dass Nils Politt, Lennard Kämna, John Degenkolb und ich die vier Kandidaten für die zwei Plätze sein werden. Von daher wird es eine Fifty-fifty-Chance.
2024 wird also ein spannendes Jahr für Sie?
Zimmermann: Es gibt immer einen Grund, Vollgas zu geben. Man muss immer sein Bestes geben. Aber ich lasse mich da nicht verrückt machen, weil ich keinen Vertrag für 2025 habe, oder weil Olympia ansteht. Ich bin keiner, der erst im letzten Moment den Arsch hochkriegt, ich arbeite da langfristiger.